Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
der kleinen Ammer in meiner Hand denken muss.
»Ich würde gerne mal nach San Francisco gehen«, verkündet mein Vater träumerisch, während er eine Krabbe auf seinem Teller hin und her schiebt.
»Das ist doch lächerlich«, schimpft meine Mutter. »Du wirst San Francisco nie sehen. Dein Platz ist hier, in Little Cam.«
Ich blicke von einem zum anderen und frage mich plötzlich, ob sie jemals so sehnsüchtig aus ihren Fenstern geschaut haben, wie ich aus meinem schaue. Ich überlege, ob sie den Zaun genauso hassen wie ich und ob der Dschungel manchmal auch nach ihnen ruft. Natürlich waren sie schon draußen. Mein Vater geht manchmal mit Onkel Antonio auf die Suche nach Exemplaren der einen oder anderen Gattung und meine Mutter war sogar schon am Little Mississip. Irgendwann wird Onkel Paolo mich auch rauslassen, aber das Warten fällt mir schwer.
Ich hole mir noch eine frische Kochbanane. »Onkel Will, hast du je eine Karte der Welt gesehen?«, frage ich dann ihn und nicht Mutter, weil ich ihre Antwort schon kenne. Natürlich nicht, Pia. Das ist lächerlich.
Aber ich merke, dass die Sache jetzt selbst Onkel Will zu heiß wird. »Nein, Pia, nein.« Mehr sagt er nicht, aber er wischt sich den Mund ab, wirft seine Serviette auf den Tisch und erhebt sich. »Ich muss im Labor noch ein paar Tests machen.«
Ich schaue ihm nach und wünsche mir, ich hätte auch ein Labor, in das ich mich verziehen könnte. Aber ich habe nur mein Schulzimmer, kein richtiges Labor wie die Wissenschaftler. In solchen Momenten wünsche ich mir fast, ich hätte zugelassen, dass sie meine Fenster zubetonieren, wie sehr ich den Blick in den Dschungel auch liebe.
Mein gläsernes Zimmer ist wunderbar zum Hinausschauen, aber verstecken kann man sich dort schlecht.
5
Heute ist mein siebzehnter Geburtstag.
Siebzehn Geburtstage habe ich hinter mir. Unzählige stehen mir noch bevor.
Es wird Abend und ich hole das Kleid, das Dr. Tollpatsch für mich ausgesucht hat, aus dem Schrank. Als ich mich im Spiegel darin sehe, verschlägt es mir den Atem. Egal was ich von Dr. Tollpatsch halte, das Kleid ist wunderschön, das lässt sich nicht leugnen. Es hat tatsächlich die Farbe meiner Augen, wie meine Mutter gesagt hat. Meine Augen sind so blaugrün wie der Regenwald. Ich stecke einige Haarsträhnen über einem Ohr fest und lasse andere über meine Wangen fallen.
Ohne Clarence, unseren Hausmeister, wüsste ich bis heute noch nichts von Partys. Aber als ich eines Abends im Speisesaal beim Essen saß, vergaß er, dass ich in der Nähe war, und begann aus seinem Leben zu erzählen, wie es war, bevor er nach Little Cam kam. Eigentlich ist es verboten, über das Leben davor zu sprechen. Das ist die oberste Regel. Jeder Neuankömmling muss am Tag seiner Ankunft die Regeln durchlesen und unterschreiben. Doch manchmal vergessen sie es und ich höre die eine oder andere Geschichte.
Clarence erzählte von dem Tag, als er seine Frau auf einer Party kennenlernte, einer Party mit Abendkleidern und Smokings und Kuchen. Nachdem seine Frau bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, ließ er alles hinter sich und zog hier ein.
Es war eine traurige Geschichte, aber seither träume ich von Partys. Als ich Onkel Paolo um eine Party mit Abendkleidern und Kuchen bat, wollte er wissen, woher ich solche Geschichten hätte. Ich sagte ihm, ich hätte im Lexikon darüber gelesen. Es war gelogen, aber er erlaubte die Party. Manchmal frage ich mich, warum alle anderen in seiner Gegenwart so ängstlich wirken. Onkel Paolo ist nämlich netter, als er tut.
Ich sehe mein Spiegelbild in der gläsernen Wand, die zum Regenwald zeigt, und drehe mich ganz langsam, um die Wirkung meines Kleides voll auszukosten. Die gespiegelte Farbe verschmilzt fast mit dem Dschungel dahinter. Es scheint, als sei mein Kleid nicht aus Stoff, sondern aus Blättern.
Ich trete ans Fenster und lege meine Hände ans Glas. Es ist der perfekte Abend für eine perfekte Party. Als ich aufschaue, sehe ich durch die Lücken im Blätterdach eine sternenklare Nacht. Über den Kapokbäumen und Palmen steht ein runder Mond, doch der Baldachin aus Blättern und Schlingpflanzen ist so dicht, dass sein Licht den Dschungelboden kaum erreicht. Nur an einer Stelle dringt es durch den Baldachin und überhaucht auch das Laub darunter. Es schimmert über die Blätter und bahnt sich einen Weg durchs Unterholz, eine Straße aus Mondlicht. Wäre ich ein Schmetterling, ich folgte diesem Pfad ins Herz des Dschungels, vielleicht
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