Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
gruselige Geschichten von Menschen, die sich im Dschungel verirrten und von Anakondas verschluckt wurden. Ich hatte bald begriffen, dass auch ein Mädchen, das nicht bluten kann, am Stück verschluckt werden kann. Es muss wohl nicht extra erwähnt werden, dass ich danach nie mehr versucht habe, das Gelände zu verlassen.
Doch als ich aus dem Fenster auf das matte Grau und Blau und Grün in den Tiefen des Regenwaldes blicke, muss ich an diesen Tag und an die dreizehn Schritte denken. Von der gläsernen Wand meines Zimmers bis zum Zaun sind es auch ungefähr dreizehn Schritte.
»Pia, Zeit zum Abendessen!«, ruft meine Mutter vom Wohnzimmer herüber.
Ich schüttle meine Tagträume ab und gehe mit ihr zum Speisesaal. Es ist ein wenig früh und der Raum ist noch fast leer. Dank der neuen Lieferungen gibt es Steak und Shrimps. Beides sind seltene Leckerbissen und normalerweise stürze ich mich heißhungrig auf solche Mahlzeiten. Doch heute muss ich ständig an den Tag denken, als ich es fast in den Dschungel geschafft hätte. Ich erinnere mich an die freudige Erregung und Euphorie während meiner dreizehn Schritte in die Freiheit, als sei es gestern gewesen. Und plötzlich verspüre ich eine gespenstische Leere in mir, die auch ein ganzer Berg Essen nicht füllen kann.
In einer Ecke sitzt ein Wissenschaftler und meine Mutter und ich setzen uns zu ihm. Ich nenne ihn Onkel Will, aber wenn ich wollte, könnte ich ihn auch Vater nennen – denn er ist mein Vater. Ich sehe ihn nicht oft. Er wohnt wie die anderen in einem der Wohnblocks und verbringt fast seine gesamte Zeit im Labor, wo er Insekten studiert, die Onkel Antonio im Dschungel sammelt. Onkel Will ist verrückt nach Ungeziefer.
Er und meine Mutter wurden in Little Cam geboren, genauso wie ihre Eltern und deren Eltern. Jede Generation meines Stammbaums ist besser als die vorhergehende, da das Elysia die genetischen Codes immer weiter vervollkommnet hat. Meine Eltern haben beide einen ungewöhnlich hohen IQ und ein fast perfektes Immunsystem, doch hat bei ihnen bereits die Zellalterung eingesetzt – was bei mir nie der Fall sein wird. Nach Onkel Paolos Berechnungen – sie stützen sich auf die Beobachtung der verschiedenen unsterblichen Tiere in Little Cam – werden sich meine Zellen ab einem Alter von circa zwanzig Jahren immer wieder regenerieren, anstatt abzubauen wie bei normalen Menschen. Ich bleibe immer jung.
Im Gegensatz zu Onkel Paolo, Onkel Timothy, Onkel Jakob und den anderen, die von außerhalb nach Little Cam kamen, haben meine Eltern – wie auch Onkel Antonio – schon immer auf dem Gelände gelebt. Sie wurden, genau wie ich jetzt, von den Wissenschaftlern ausgebildet und haben Aufgaben in Little Cam übernommen, mit denen früher Wissenschaftler von außerhalb betraut waren.
Onkel Paolo hat mir einmal erzählt, dass die Wissenschaft auf eine Möglichkeit hofft, unsterbliche Wesen zu erschaffen, ohne auf organische Reproduktion zurückgreifen zu müssen. Vor vierzig Jahren begannen sie mit In-vitro-Fertilisation, was die ganze Sache offensichtlich sehr vereinfacht hat. Doch solange man Embryos noch nicht erfolgreich außerhalb des Mutterleibs heranzüchten kann, wird es Mütter in Little Cam geben.
Ich bin froh, dass ihnen das noch nicht gelungen ist. Mir gefällt der Gedanke, dass ein echtes, atmendes menschliches Wesen mich geboren hat und ich nicht aus einem Reagenzglas aus irgendeinem Labor komme. Auch wenn ich meine Großeltern nie kennengelernt habe, stehen ihre Namen doch auf der Ahnentafel, die ich Dr. Tollpatsch gezeigt habe. Sie zeigt meine Abstammung. Ist mein Stammbaum.
Wenn man, ausgehend von meinen Eltern, die Linien auf der Tafel verfolgt und eine Reihe nach oben und zwei zur Seite geht, stehen dort die Namen Alex und Marian. Die beiden, die jung starben.
Während ich in meinen Shrimps herumstochere, denke ich an Alex und Marian. Sie waren die Einzigen aus ihrer Generation – zu der auch meine Großeltern und Onkel Antonios Eltern gehörten –, die sich gegen die In-vitro-Fertilisation entschieden. Im Gegensatz zu ihren Zeitgenossen wollten sie ein Leben lang Partner bleiben und sich auf natürlichem Weg fortpflanzen. Ich habe gehört, wie sich Tante Nénine mit Tante Brigid darüber unterhalten und erzählt hat, wie sehr sie sich liebten. Ich beobachte meine Eltern und frage mich, weshalb sie sich nie ineinander verliebt haben. Sie reden kaum miteinander und es wundert mich, dass sie heute an einem Tisch sitzen. Ihre
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