Die einzige Wahrheit
Wahrheit sagst, ist das Staatsgefängnis die einzige Welt, die du danach kennen wirst.«
»Wenn das der Wille des Herrn ist, werde ich ihn akzeptieren.«
Zornig sah ich sie an. »Willst du hier die Märtyrerin spielen? Nur zu, meinetwegen. Aber ich werde nicht neben dir sitzen, wenn du juristischen Selbstmord begehst.«
Eine Weile sagte Katie nichts mehr. Dann sah sie mich mit großen, klaren Augen an. »Du mußt, Ellie. Weil ich dich brauche.« Sie setzte sich neben mich aufs Bett, so nah, daß ich die Wärme ihres Körpers spürte. »Ich werde fremd sein in diesem englischen Gerichtssaal. Ich werde auffallen, mit meiner Kleidung, meiner Denkweise, weil ich keine Englische bin. Ich verstehe nichts von Mordanklagen und Zeugen und Geschworenen, aber ich weiß, wie ich die Dinge in meinem Leben wieder einrenken kann, wenn sie schieflaufen. Wenn du einen Fehler machst und bereust, wird dir vergeben. Du wirst mit offenen Armen wieder aufgenommen. Wenn du lügst und immer weiter lügst, gibt es keinen Platz mehr für dich.«
»Deine Gemeinde hat es geschluckt, daß ich engagiert wurde«, sagte ich. »Sie werden auch verstehen, warum du das jetzt tun mußt.«
»Aber ich nicht.« Sie faltete die Hände, als wollte sie beten. »Vielleicht komme ich durch Lügen frei, wie du sagst, und ich muß nicht in ein englisches Gefängnis. Aber Ellie, wo soll ich dann hin? Denn wenn ich lüge, um mich zu retten, kann ich nicht mehr hierher zurück.«
Ich schloß die Augen und dachte an den Gottesdienst, bei dem Katie sich niedergekniet und gebeichtet hatte. Ich dachte an die Gesichter der anderen, die in diesem stickigen engen Raum ihr Urteil abgaben – nicht rachsüchtig, nicht verächtlich … sondern erleichtert, als würde Katies Demut sie alle ein bißchen stärker machen. Ich dachte an den Nachmittag, an dem wir alle zusammen den Mais eingebracht hatten; wie ich dabei ein Gefühl der Zugehörigkeit hatte, das größer war als ich allein. Ich dachte an Sarahs Gesicht, als sie Jacob zum erstenmal seit Jahren wiedersah.
Was nützte jemandem, der sich sein Leben lang dem Gemeinwohl untergeordnet hatte, was nützte so jemandem ein persönlicher Sieg?
Katies Hand, schwielig und klein, schob sich in meine. »Also gut«, seufzte ich. »Mal sehen, was wir machen können.«
TEIL II
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Laß deine linke Hand nicht wissen,
was die rechte tut.
MATTHÄUS 6,3
11
R ichterin Philomena Ledbetter beobachtete, wie die Anwältin zum dritten Mal, seit sie ins Richterzimmer getreten war, nach ihrem Stift tastete. Die großstädtische Erfolgsanwältin Ellie Hathaway wirkte so nervös wie eine Anfängerin – und das war um so eigenartiger, als sie noch gestern selbstbewußt und kompetent aufgetreten war. »Ms. Hathaway«, sagte die Richterin. »Sie haben um ein erneutes Gespräch gebeten?«
»Ja, Euer Ehren. Ich denke, es gibt noch offene Fragen zu klären, da gewisse … neue Entwicklungen eingetreten sind.«
George Callahan, der rechts von ihr saß, schnaubte. »In den zehn Stunden, seit wir uns zuletzt getroffen haben?«
Richterin Ledbetter ignorierte den Einwurf. Sie war selbst nicht begeistert von dem kurzfristigen Treffen, da es ihren ganzen Terminplan durcheinanderbrachte. »Würden Sie das bitte näher erläutern, Ms. Hathaway?«
Ellie schluckte. »Ich möchte vorweg sagen, daß es nicht meine Entscheidung ist. Da ich der Schweigepflicht unterliege, kann ich nicht alles erläutern, aber meine Mandantin ist der Ansicht – das heißt, ich bin der Ansicht …« Sie räusperte sich. »Ich ziehe hiermit meinen Antrag auf schuldig, aber unzurechnungsfähig zurück.«
»Wie bitte?« sagte George. Ellie setzte sich kerzengerade hin. »Statt dessen plädieren wir auf nicht schuldig.«
Richterin Ledbetter runzelte die Stirn. »Ihnen ist doch sicherlich klar, daß es zu diesem Zeitpunkt –«
»Durchaus. Aber ich habe keine andere Wahl, Euer Ehren. Ich muß das tun, um meinen ethischen Verpflichtungen gegenüber dem Gericht und meiner Mandantin gerecht zu werden. Für mich kommt das ebenso überraschend wie für Sie.«
George fuhr aus der Haut. »Das können Sie nicht machen, nicht dreieinhalb Wochen vor Prozeßbeginn!«
»Was für einen Unterschied macht das für Sie?« zischte Ellie. »Sie wollten doch ohnehin beweisen, daß sie zurechnungsfähig war – jetzt sage ich Ihnen bloß, daß Sie recht haben. Ich mache Ihnen nicht Ihre Anklage kaputt, ich mache mir meine Verteidigung kaputt.« Sie wandte sich der
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