Die einzige Wahrheit
richterlichen Anhörung vor Prozeßbeginn in meinem todschicken roten Kostüm die Treppe herunterkam, servierte Sarah mir einen Teller mit Eiern und Speck, Pfannkuchen, Toast und Honig. Sie versorgte mich, wie sie Aaron und Samuel versorgte, Männer, die viele Stunden am Tag Schwerstarbeit leisteten. Nach einem ziemlich kurzen Anfall von schlechtem Gewissen aß ich meinen Teller leer.
Katie stand am Spülstein, während ich aß, und machte den Abwasch. Sie trug ein lavendelfarbenes Kleid und ihre beste Schürze – ihr Sonntagsstaat –, weil sie mit zum Gericht kommen würde. Sie konnte zwar nicht bei der Anhörung dabei sein, aber ich wollte der Richterin demonstrieren, daß ich meine Aufsichtspflicht nach wie vor ernst nahm.
Katie wollte eine Schüssel zum Abtropfen abstellen, doch sie rutschte ihr aus den Händen. »Oh!« schrie sie, griff danach und stieß mit dem Ellbogen einen Tonkrug von der Arbeitsplatte, so daß Scherben und Orangensaft durch die Küche spritzten. Katie brach in Tränen aus. Sarah sagte etwas auf deitsch , während Katie sich bückte, um die größten Scherben aufzusammeln. Ich kniete mich neben sie, um ihr zu helfen. »Du bist nervös.«
»Es ist bloß … plötzlich alles so real, Ellie.«
Sarah griff zwischen uns und wischte den Orangensaft mit einem Geschirrtuch auf. Über ihren Rücken hinweg sah ich Katie an und lächelte. »Vertrau mir. Ich weiß, was ich tue.«
Ich wußte, daß es George Callahan ein bißchen aus der Fassung gebracht hatte, an Katie vorbeizumüssen, die gelassen und liebenswert auf einer Bank direkt gegenüber des Richterzimmers saß. Immer wieder spähte er vorbei an der Gerichtsschreiberin, die die Anhörung protokollieren sollte, durch die offene Tür nach draußen, wo Katie zu sehen war. »Was macht Ihre Mandantin hier?« zischelte er mir schließlich zu.
Ich reckte den Hals und tat so, als würde ich Katie interessiert betrachten. »Ich glaube, sie betet.«
»Sie wissen genau, was ich meine.«
»Ach so, warum ich sie mit hergebracht habe? Meine Güte, George. Sie sollten das wirklich besser wissen als jeder andere. Das gehört zu den Kautionsbedingungen.«
Richterin Ledbetter kam hereingerauscht. »Tut mir leid, daß ich zu spät komme«, sagte sie und nahm ihren Platz ein. Sie schlug eine Akte auf und überflog sie. »Ms. Hathaway, darf ich sagen, wie froh ich bin, daß Sie endlich dazu gekommen sind, ihren Antrag auf Unzurechnungsfähigkeit einzureichen?« Sie blätterte weiter. »Stehen noch irgendwelche Anträge von Ihnen beiden aus?«
»Ich habe einen Antrag auf Einstellung des Verfahrens gestellt, Euer Ehren«, sagte ich.
»Ja, das weiß ich. Warum?«
»Weil meiner Mandantin ein verfassungsmäßiges Recht verweigert wird – ein faires Gerichtsverfahren unter Gleichen. Aber unter den Geschworenen ist keine amische Frau und kein amischer Mann. In unserer Gesellschaft – in unserem System – finden Amische keine Berücksichtigung.« Ich holte tief Luft, als die Richterin die Augen zusammenkniff. »Geschworene, die einen repräsentativen Querschnitt der amerikanischen Gesellschaft bilden, sind eben kein Querschnitt der amischen Gemeinde, Euer Ehren. Und wenn meine Mandantin nicht von Menschen beurteilt wird, die ihren Glauben und ihre Erziehung verstehen, dann ist das für sie eindeutig von Nachteil.«
Die Richterin wandte sich an den Staatsanwalt. »Mr. Callahan?«
»Euer Ehren, es ist eine Tatsache, daß Ms. Fisher ein Gesetz der Vereinigten Staaten gebrochen hat. Sie wird vor einem amerikanischen Gericht stehen. Es spielt gar keine Rolle, ob sie eine Amische, eine Buddhistin oder eine Zulu-Frau ist – sie hat mit dem Feuer gespielt, und jetzt muß sie sich den Konsequenzen stellen.«
»Ach, ich bitte Sie. Sie ist keine internationale Terroristin, die im World Trade Center eine Bombe gelegt hat. Sie ist amerikanische Staatsbürgerin, und damit hat sie das Recht auf eine faire Behandlung nach dem Gesetz.«
George sah mich an und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Amerikanische Staatsbürger zahlen Steuern.«
»Verzeihung, ich glaube, die Gerichtsschreiberin hat das nicht ganz mitbekommen«, warf die Richterin ein.
Ich lächelte sie an. »Der Staatsanwalt hat nur falsche Mutmaßungen über das Steuerverhalten meiner Mandantin angestellt. Die Amischen zahlen Steuern, George. Wenn sie selbständig sind, zahlen sie nicht in die Sozialversicherung ein, weil sie deren Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Wenn sie angestellt sind, wird
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