Die einzige Wahrheit
war, wandten sich ihr neugierige Blicke zu. Es gab ein Raunen, man zeigte auf sie, kicherte.
Nur ein einziges Mal in ihrem Leben hatte Ellie ein ähnliches Gefühl gehabt, vor Jahren, als sie einen Sommer lang in Afrika war, um im Rahmen eines College-Projektes beim Bau eines Dorfes mitzuhelfen; nie zuvor war sie sich andersartiger, auffälliger vorgekommen. »Komm mit«, sagte Katie und zog sie über den Hof, als wäre alles in Ordnung, als spaziere sie jeden Tag mit einer Englischen umher.
Ein großer Mann mit einem buschigen, weißen Bart und hellen Habichtsaugen rief »Katie« und ergriff ihre Hände.
»Bischof Ephram.« Ellie bemerkte, daß Katie zitterte.
»Sie müssen die Anwältin sein«, sagte er mit so lauter Stimme, daß alle es hören konnten. »Die Frau, die unsere Katie wieder zu uns nach Hause gebracht hat.« Er reichte Ellie die Hand. »Willkumm.« Dann ging er Richtung Scheune.
»Das war wunderbar von ihm«, flüsterte Katie. »Jetzt machen sich die anderen nicht den ganzen Gottesdienst über Gedanken um dich.«
»Wo findet denn der Gottesdienst statt?« fragte Ellie.
»Im Haus. Der Gottesdienst findet immer reihum bei den Familien zu Hause statt.«
Ellie musterte skeptisch das kleine holzverkleidete Farmhaus. »So viele Leute passen doch niemals in dieses kleine Haus, ausgeschlossen.«
Bevor Katie antworten konnte, kamen zwei junge Frauen auf sie zu, nahmen Katies Hände und redeten aufgeregt auf sie ein, besorgt wegen der Gerüchte, die ihnen zu Ohren gekommen waren. Katie schüttelte den Kopf und beruhigte sie, dann bemerkte sie, daß Ellie sich offensichtlich fehl am Platze fühlte. »Ich möchte euch jemanden vorstellen«, sagte sie. »Mary Esch, Rebecca Lapp, das ist Ellie Hathaway, meine …«
Ellie lächelte gequält. »Anwältin«, half sie ihr. »Freut mich.«
»Anwältin?« Rebecca stieß das Wort keuchend hervor, als hätte Ellie lästerlich geflucht, statt nur ihren Beruf zu nennen. »Wozu brauchst du denn eine Anwältin?«
Inzwischen stellten die Frauen sich in einer lockeren Reihe auf und gingen nacheinander ins Haus. Die jungen unverheirateten Frauen standen ganz vorn, aber Ellies Anwesenheit stellte offensichtlich ein Problem dar. »Sie wissen nicht, wohin mit dir«, erklärte Katie. »Du bist ein Gast, also müßtest du ganz vorne gehen. Aber du bist nicht getauft.«
»Ich löse das Problem für euch.« Ellie trat zwischen Katie und Rebecca. »So.« Eine ältere Frau schüttelte den Kopf und hob mahnend den Zeigefinger in Richtung Ellie, offensichtlich verärgert, weil jemand, der nicht zur Gemeinde gehörte, sich so weit vorne hinstellte. »Entspann dich«, sagte Ellie halblaut. »Regeln sind dazu da, gebrochen zu werden.«
Als sie aufsah, blickte Katie sie ernst an. »Hier nicht.«
Erst als Katie anfing, Jacob regelmäßig zu besuchen, wurde ihr wirklich klar, wie Menschen vom Teufel verführt werden konnten. Wie leicht es war, wenn Luzifer mit Dingen wie CD-Playern und Levi’s 501 lockte. Es war weniger der Gedanke, daß ihr Bruder in Sünde geraten war – sie erkannte nur allmählich, daß ein gestürzter Erzengel nur die Hand auszustrecken brauchte, um einen nach dem anderen mit sich zu ziehen.
Eines Tages, als sie fünfzehn war, erklärte Jacob, er habe eine Überraschung für sie. Er hatte ihr Sachen zum Anziehen mit zum Bahnhof gebracht und wartete, bis sie sich auf der Damentoilette umgezogen hatte, dann führte er sie zu einem großen Kombi voller Studenten. »He, Jake«, rief einer von den Jungs durch die heruntergekurbelte Scheibe. »Du hast uns gar nicht erzählt, wie heiß deine Schwester ist!«
Katie strich über ihr Sweatshirt. Warm, okay … Jacob unterbrach ihre Gedanken. »Sie ist fünfzehn«, sagte er bestimmt.
»Ein bißchen zu jung für dich«, rief ein junges Mädchen, zog dann den Jungen nach hinten und küßte ihn auf den Mund.
Noch nie war Katie so nah bei Menschen gewesen, die sich in der Öffentlichkeit küßten; sie starrte sie an, bis Jacob sie an der Hand zog. Er stieg in den Wagen und schob die anderen zur Seite, damit seine Schwester Platz hatte. Dann schleuderte er ihr einen Wirbelsturm von Namen entgegen, die sie im selben Augenblick wieder vergaß. Und dann fuhren sie los, der Wagen erfüllt vom wilden Rhythmus der Stones und den verstohlenen Bewegungen eines knutschenden Pärchens auf der Rückbank.
Irgendwann später rollte das Auto auf einen Parkplatz, und Katie blickte den Berg hinauf und auf die Ski-Lodge an seinem
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