Die einzige Wahrheit
Fuß. »Überrascht?« fragte Jacob. »Was meinst du?«
Katie schluckte trocken. »Daß es schwierig wird, Mam und Dad ein gebrochenes Bein zu erklären.«
»Du wirst dir kein Bein brechen. Ich bring’s dir bei.«
Und das tat er – etwa zehn Minuten lang. Dann ließ er Katie auf einem kleinen Hügel allein mit einer Skischulklasse und beeilte sich, zu seinen Freunden zu kommen. Katie fuhr immer wieder den sachten Hang hinunter und hielt ständig Ausschau nach Jacob, der aber nicht kam. Die ganze Welt war ihr fremd – glatt und weiß, übersät mit Menschen, die einen weiten Bogen um sie machten. So mußte es sein, dachte sie, wenn man für immer unter Bann gestellt wurde. Man würde alle verlieren, die einem wichtig waren. Man wäre ganz allein.
Es sei denn, natürlich, man konnte das tun, was Jacob getan hatte: sich in jemand anderen verwandeln. Sie verstand nicht, wie ihm das so nahtlos hatte gelingen können, als hätte er niemals ein anderes Leben geführt.
Plötzlich spürte sie Zorn in sich aufsteigen, daß sie und ihre Mam sich so viel Mühe gaben, Jacob im Herzen zu bewahren, während er loszog und Bier trank und Skipisten herunterraste. Sie löste die Sicherung ihrer geliehenen Ski, ließ sie im Schnee liegen und marschierte zurück zur Lodge.
Katie wußte nicht, wie lange sie dort gesessen und aus dem Fenster gestarrt hatte. Die Sonne stand jedenfalls schon um einiges tiefer am Himmel, als Jacob hereingestapft kam, ihre Ski in den Händen. »Himmel, Katie!« rief er. »Du kannst doch nicht einfach deine Ski liegenlassen. Weißt du, wieviel das kostet, wenn du die verlierst?«
Katie wandte sich langsam um. »Nein, Jacob, weiß ich nicht. Und ich weiß nicht, wieviel es kostet, sie für einen Tag zu leihen. Ich weiß auch nicht, wieviel ein Kasten Bier kostet, wo wir gerade dabei sind. Und ich weiß erst recht nicht, warum ich den weiten Weg im Zug herkomme, um dich zu besuchen!«
Sie wollte an ihm vorbei, aber er hielt sie fest. »Du hast recht«, sagte er sanft. »Die anderen sehe ich jeden Tag, und dich bekomme ich fast nie zu sehen.«
Katie ließ sich wieder auf die lange Bank sinken. »Wieso hast du mich heute hierher mitgenommen?«
»Ich wollte dir was zeigen.« Als Katie nur nach unten starrte, streckte er eine Hand aus. »Versuch’s noch mal. Mit mir. Auf dem Sessellift.«
»O nein.«
»Ich bleib in deiner Nähe. Versprochen.«
Er zog sie zu der Schlange vor dem Lift, machte Witze, neckte sie und war plötzlich wieder der Bruder, den sie in Erinnerung hatte, so daß sie sich fragte, welche der beiden Persönlichkeiten inzwischen seine wirkliche war. Dann trug der Lift sie so hoch, daß Katie alle Baumwipfel sehen konnte, die Straßen, die von dem Skigebiet wegführten, sogar den äußersten Rand des Universitätsgeländes. »Wie schön«, sagte sie atemlos.
»Genau das wollte ich dir zeigen«, sagte Jacob leise. »Daß East Paradise nur ein kleiner Punkt auf der Landkarte ist.«
Katie antwortete nicht. Sie ließ zu, daß Jacob ihr aus dem Sessellift half, folgte dann seinen Anweisungen und fuhr langsam den Berg hinunter, aber das Bild der Welt vom Gipfel aus gesehen ging ihr nicht aus dem Kopf, und sie wurde auch das Gefühl nicht los, daß sie sich geborgener fühlen würde, wenn sie erst wieder blind unten im Tal stand.
Wenn es einer ihrer üblichen Sonntage wäre, dachte Ellie, würden sie und Stephen jetzt die New York Times im Bett lesen, Bagels essen und die Bettdecke vollkrümeln, vielleicht sogar eine Jazz-CD auflegen und miteinander schlafen. Statt dessen saß sie hier eingezwängt zwischen zwei amischen Mädchen und ließ ihren ersten amischen Gottesdienst über sich ergehen.
Katie hatte recht; es gelang tatsächlich, alle im Haus unterzubringen. Man hatte die Möbel verrückt, um Platz für die langen Sitzbänke ohne Rückenlehne zu schaffen, die mit Kutschen von Haus zu Haus transportiert wurden. Dank der breiten Türen konnte fast jeder von seinem Platz aus die Mitte des Hauses einsehen – den Ort, an dem die sogenannten eingesetzten Männer stehen würden. Frauen und Männer saßen zwar im selben Raum, aber auf unterschiedlichen Seiten, die Ältesten und die Verheirateten ganz vorn. In der Küche umsorgten Mütter ihre Babys, kleine Kinder saßen geduldig neben ihrem jeweiligen gleichgeschlechtlichen Elternteil. Ellie fuhr zusammen, als Rebecca aufrückte und sie noch enger an Katie heranschob. Sie roch Schweiß, Seife und schwachen Stallduft.
Schließlich war es
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