Die einzige Wahrheit
so voll, daß niemand mehr hineingepaßt hätte. In der eindringlichen Stille wartete Ellie darauf, daß der Gottesdienst begann. Und wartete. Sie schien die einzige zu sein, die sich fragte, wieso nichts passierte. Sie blickte sich verstohlen um, als ein Stimmengeflüster losging: »Mach du es.« »Du … Nein, du.« Schließlich stand ein älterer Mann auf und sagte laut eine Zahl. Wie auf Kommando wurden ungezählte Bücher aufgeschlagen. Katie, die den Ausbund auf dem Schoß hielt, drehte ihn so, daß Ellie den Text des Liedes lesen konnte.
Ellie seufzte. Tu einfach, was alle tun. Aber sie war wirklich nicht in der Lage, vom Blatt zu singen, wenn die Noten nicht angegeben waren. Da stand nur der Text, und sie kannte die Melodien amischer Gottesdienstlieder nicht. Ein alter Mann begann, mit Falsettstimme zu singen, langsam und würdevoll, und die anderen fielen ein. Ellie sah, daß die eingesetzten Männer – Bischof Ephram, die beiden Prediger und ein anderer Mann, der ihr vorher nicht aufgefallen war, aufstanden und die Treppe hinaufgingen. Habt ihr es gut, dachte sie.
Das dachte sie auch dreißig Minuten später noch, als das erste Lied endete, minutenlanges Schweigen eintrat und dann das Loblied angestimmt wurde. Ellie schloß die Augen, bewunderte das Durchhaltevermögen dieser Menschen, die sich auf den harten Bänken gerade hielten. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal an einem Gottesdienst teilgenommen hatte, aber auf jeden Fall wäre der längst zu Ende gewesen, bevor die amischen Prediger und der Bischof wieder herunterkamen, um die Eröffnungspredigt zu halten.
»Liebe Brüder und Schwestern …«
»Gelobet sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus …« Ellie war kurz davor einzunicken, als Katies leise Erklärung an ihr Ohr drang. »Er entschuldigt sich für seine Schwäche als Prediger und will dem Bruder, der die Hauptpredigt halten wird, nicht unnötig Zeit wegnehmen.«
»Wenn er so schlecht ist«, flüsterte Ellie zurück, »wieso ist er dann überhaupt Prediger?«
»Er will bloß zeigen, daß er nicht stolz ist.«
Ellie nickte und betrachtete den älteren Mann nun mit anderen Augen. » Un wann dihr eenich sinn, losst uns bede «, sagte er, und alle im Raum – bis auf Ellie – fielen auf die Knie.
Sie blickte auf Katies gebeugten Kopf, auf die gebeugten Köpfe der eingesetzten Männer, das Meer von Kapps und ordentlich gestutzten Haaren und ließ sich auf den Boden gleiten.
Mitten in der Nacht wurde Katies Zimmer von Licht durchflutet. Freudig erregt setzte sie sich im Bett auf, zog sich dann rasch an. Die meisten jungen Männer auf Freiersfüßen hatten in ihren Kutschen starke Taschenlampen, mit denen sie in das Fenster ihrer Auserwählten leuchteten, wenn sie sich an einem Samstag abend heimlich mit ihnen treffen wollten. Katie legte sich ein Schultertuch um – es war Februar und eiskalt – und schlich auf Zehenspitzen nach unten. Im Geiste sah sie John Beilers Augen vor sich, die so warm und golden waren wie die Blätter einer Buche im Herbst. Sie würde ihn ausschimpfen, dachte sie, weil er sie in einer so kalten Nacht nach draußen gelockt hatte, aber dann würde sie mit ihm spazierengehen und ihn vielleicht sogar ab und zu mit der Schulter berühren und so tun, als wäre es keine Absicht gewesen. Ihre beste Freundin Mary Esch hatte sich schon von Curly Joe Yoder auf die Wange küssen lassen. Behutsam öffnete sie die Tür und trat hinaus auf die Veranda. Katies Augen strahlten. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie sich umwandte und vor ihrem Bruder stand.
»Jacob!« stieß sie hervor. »Was machst du denn hier?« Sofort blickte sie nach oben zum Schlafzimmerfenster ihrer Eltern. Mit einem Verehrer überrascht zu werden wäre schon schlimm genug; aber nicht auszudenken, was passieren würde, wenn ihr Vater Jacob hier entdeckte. Jacob legte seiner Schwester einen Finger auf die Lippen, nahm ihre Hand und zog Katie von der Veranda. Schweigend lief er mit ihr zum Bach. Am Ufer des Teiches blieb er stehen und wischte mit dem Ärmel seiner Daunenjacke den Schnee von der kleinen Bank. Dann, als er Katie vor Kälte zittern sah, zog er seine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. Beide starrten sie auf das dunkle Eis, glatt wie Seide, so klar, daß man darunter die gefrorenen Grasbüschel sehen konnte. »Warst du heute schon einmal hier?« fragte er.
»Was glaubst du denn?« Sie war am Morgen hergekommen, weil seit damals fünf Jahre
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