Die einzige Wahrheit
habe ich sozusagen keinen festen Wohnsitz.«
Katie schwieg so lange, daß ich schon dachte, sie wäre eingeschlafen. »Doch, hast du wohl«, sagte sie. »Jetzt wohnst du bei uns.«
Ich erwachte mit einem Ruck, und im ersten Moment fürchtete ich, ich hätte wieder meinen Alptraum gehabt, den mit den kleinen Mädchen aus meinem letzten Prozeß, aber meine Bettwäsche war nicht zerwühlt, und mein Puls ging langsam und regelmäßig. Ich sah hinüber zu Katies Bett, aber sie lag nicht darin, wie der zurückgeschlagene Quilt verriet. Ich stand sofort auf, tappte barfuß nach unten und hörte noch das leise Klicken der Tür und Schritte auf der Veranda.
Sie ging bis zu dem Teich, an dem ich am Nachmittag gewesen war. Ich folgte ihr heimlich in sicherer Entfernung, aber so nah, daß ich sie sehen und hören konnte. Sie setzte sich auf eine kleine gußeiserne Bank unter der großen Eiche und schloß die Augen.
Schlafwandelte sie wieder? Oder wollte sie sich hier draußen mit irgendwem treffen?
Hatten Katie und Samuel hier ihre Stelldicheins? Hatte sie hier ihr Kind empfangen?
»Wo bist du?« Katies Flüstern drang bis zu mir, und mir wurden zwei Dinge gleichzeitig bewußt: daß sie zu klar war, um noch zu schlafen, und daß ich ihre Worte verstand. »Warum versteckst du dich?«
Offensichtlich wußte sie, daß ich ihr gefolgt war. Mit wem sollte sie sonst in einer anderen Sprache als ihrer eigenen reden?
Ich trat hinter der Weide hervor und ging zu ihr. »Ich sage dir, warum ich mich verstecke, wenn du mir erzählst, warum du hier bist.«
Katie sprang auf, mit geröteten Wangen. Sie sah so verschreckt aus, daß ich unwillkürlich einen Schritt zurück machte – in den Teich, so daß meine Pyjamahose naß wurde. »Überraschung«, sagte ich ausdruckslos.
»Ellie! Wieso bist du auf?«
»Das müßte ich eigentlich dich fragen. Und noch mehr: Wen wolltest du hier treffen? Samuel vielleicht? Wolltet ihr beide eure Geschichte genau absprechen, bevor ich ein kleines Verhör mit ihm veranstalte?«
»Es gibt keine Geschichte –«
»Herrgott, Katie, gib’s auf! Du hast ein Kind bekommen. Du wirst des Mordes beschuldigt. Ich bin deine Verteidigerin, und du schleichst trotzdem mitten in der Nacht ohne mein Wissen hier draußen rum. Weißt du was, ich bin schon sehr viel länger in diesem Geschäft als du, und Menschen schleichen nicht einfach so rum, es sei denn, sie haben was zu verbergen. Zufälligerweise lügen sie auch nicht, es sei denn, sie haben was zu verbergen.« Tränen liefen Katie übers Gesicht. Ich blieb hart. »Es ist besser, wenn du endlich redest.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht Samuel. Ich treffe mich nicht mit ihm.«
»Wieso soll ich dir das glauben?«
»Weil ich die Wahrheit sage!«
Ich schnaubte. »Ach so. Du triffst dich nicht mit Samuel. Du wolltest bloß ein bißchen frische Luft schnappen. Oder ist das hier so eine Art amischer Mitternachtsbrauch, den ich noch nicht kenne?«
»Ich bin nicht wegen Samuel hergekommen.« Sie sah mich an. »Ich konnte nicht schlafen.«
»Du hast mit jemandem geredet. Du hast gedacht, er hätte sich versteckt.«
Katie zog den Kopf ein. »Sie.«
»Wie bitte?«
»Eine Sie . Ich habe ein Mädchen gesucht.«
»Keine schlechte Idee, Katie, aber leider hast du Pech. Ich sehe hier kein Mädchen. Und ich sehe auch keinen Jungen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, wenn ich noch fünf Minuten warte, taucht hier ein großer blonder Bursche auf.«
»Ich hab nach meiner Schwester gesucht. Hannah.« Sie stockte. »Du schläfst in ihrem Bett.«
Im Geist sah ich alle vor mir, die ich im Laufe des Tages kennengelernt hatte. Da war kein anderes junges Mädchen gewesen; und ich konnte mir nur schwer vorstellen, daß Leda mir gegenüber niemals Katies Geschwister erwähnt hätte. »Wieso war Hannah nicht beim Abendessen? Oder heute abend beim Gebet?«
»Weil sie … tot ist.«
Als ich diesmal zurücktrat, landete ich mit beiden Füßen im Teich. »Sie ist tot.«
»Ja.« Katie hob mir ihr Gesicht entgegen. »Sie ist hier ertrunken, als sie sieben Jahre alt war. Ich war elf, und ich sollte auf sie aufpassen. Wir sind Schlittschuh gelaufen, aber sie ist ins Eis eingebrochen.« Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres Nachthemdes über Augen und Nase. »Du … du wolltest ja, daß ich dir alles sage, dir die Wahrheit sage. Ich komme hierher, um mit Hannah zu sprechen. Manchmal sehe ich sie sogar. Ich hab noch keinem was davon erzählt, weil, na ja, Mam und Dad
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