Die einzige Wahrheit
vergangen waren. Katie legte beide Hände an die Wangen und wurde rot bei dem Gedanken, daß sie so mit sich selbst beschäftigt gewesen war und an John Beiler gedacht hatte, wo doch all ihre Gedanken eigentlich Hannah hätten gelten sollen. »Ich kann immer noch nicht richtig glauben, daß du hergekommen bist.«
Er blickte sie finster an. »Ich komme jedes Jahr her. Ich hab mich bloß bis jetzt nie bei dir gemeldet.« Verblüfft wandte Katie sich ihm zu. »Du kommst her? Jedes Jahr?«
»An dem Tag, an dem sie starb.« Sie starrten beide wieder auf den Teich, sahen zu, wie die Weidenzweige bei jedem heftigen Windstoß über die Oberfläche kratzten. »Mam? Wie geht’s ihr?«
»Wie jedes Jahr. Sie hat sich ein bißchen grenklich gefühlt und ist früh zu Bett gegangen.«
Jacob lehnte sich zurück und starrte in den Himmel hinauf, der aufgerissen und mit Sternen geschmückt war. »Ich hab sie oft weinen gehört, draußen auf der Verandaschaukel, unter meinem Fenster. Und ich hab gedacht, wenn ich nicht so ein Bücherwurm gewesen wäre, wäre es nicht passiert.«
»Mam hat gesagt, es war der Wille des Herrn. Es wäre passiert, ob du nun deine Bücher gelesen hättest oder nicht.«
»Weißt du, das war das einzige Mal, daß mir Zweifel gekommen sind, ob ich wirklich weiter lernen wollte. Als ob Hannahs Ertrinken eine Art Bestrafung dafür war.«
»Wieso solltest du bestraft werden?« Katie schluckte. »Schließlich hatte Mam mir doch gesagt, ich sollte auf sie aufpassen.«
»Du warst elf. Du konntest nicht wissen, was du tun solltest.«
Katie schloß die Augen und hörte das schwere Ächzen, das vor so vielen Jahren vom Eis hergekommen war, das Geräusch von schweren treibenden Platten und Ungeheuern, die aus der Tiefe brüllten, damit niemand das Eis betrat. Sie sah Hannah, die so stolz war, weil sie sich an diesem Tag zum erstenmal ganz allein die Schlittschuhe angeschnallt hatte, über den Teich flitzen, silberne Schlittschuhe blitzten unter ihren grünen Röcken . Guck mal! Guck mal! hatte Hannah gerufen, aber Katie hatte nicht hingehört, weil sie gerade von dem wunderschönen Glitzerkostüm einer olympischen Eiskunstläuferin träumte, das sie an der Kasse des Supermarktes in einer Zeitung gesehen hatte. Dann kam ein Schrei und ein Krachen. Als Katie sich umdrehte, glitt Hannah schon unters Eis.
»Sie hat versucht, sich festzuhalten«, sagte Katie leise. »Ich hab immer wieder gerufen, sie soll sich festhalten. Ich wollte einen langen Ast holen, so, wie Dad es uns beigebracht hat. Aber ich kam nicht an den Ast ran, den ich abbrechen wollte, und jedesmal, wenn ich wieder hinsah, waren ihre Handschuhe ein bißchen weitergerutscht. Und dann war sie verschwunden. Einfach so.« Sie hob das Gesicht zu ihrem Bruder, konnte vor Scham nicht zugeben, daß ihre Gedanken an jenem Tag genauso tadelnswert gewesen waren wie alles, was er getan hatte. »Sie wäre jetzt schon älter, als ich war, als sie starb.«
»Mir fehlt sie auch, Katie.«
»Das ist nicht dasselbe.« Sie kämpfte gegen die Tränen an. »Zuerst Hannah, dann du. Wie kommt es, daß mich ausgerechnet die Menschen verlassen, die ich am meisten liebe?«
Jacobs Hand legte sich auf ihre, und Katie dachte, daß sie ihren Bruder zum erstenmal seit vielen Monaten wiedererkannte. Sie konnte ihn anschauen mit seinem glattrasierten Gesicht und dem kurzgeschnittenen Haar und statt dessen Jacob in Hemd und mit Hosenträgern vor sich sehen, den Hut beiseite geworfen, den Kopf über Schulbücher gebeugt, wie er oben auf dem Heuboden versuchte, seine schönsten Träume zu verbergen. Plötzlich spürte sie, wie sich ihre Brust zusammenzog. Als sie den Blick zum Teich hob, sah sie eine schmale Gestalt darüber hinweggleiten und kleine Schneewölkchen aufwirbeln. Eine Schlittschuhläuferin, was nicht weiter bemerkenswert gewesen wäre, hätte Katie nicht durch den Schal und den Rock und das Gesicht des Mädchens hindurch das Maisfeld und die Weide sehen können.
Sie glaubte nicht an Geister. Sie glaubte, wie alle Amischen, daß harte Arbeit den Weg zur Gnade ebnete – eine Haltung getreu dem Motto »abwarten und das Beste hoffen«, in der kein Platz war für Gespenster und gequälte Seelen. Mit Herzklopfen stand Katie auf und machte einige Schritte über das Eis auf die Stelle zu, wo Hannah Schlittschuh lief. Jacob schrie hinter ihr her, aber sie hörte ihn kaum. Sie, die in dem Glauben erzogen worden war, daß Gott unsere Gebete erhörte, erkannte jetzt, daß es
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