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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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wahr war: In diesem Augenblick waren sowohl ihr Bruder als auch ihre Schwester zu ihr zurückgekehrt.
    Sie streckte die Arme aus und flüsterte: »Hannah?« Aber sie griff ins Nichts, und ein Schaudern durchlief sie, als Hannahs durchsichtige Röcke ihr um die eigenen Stiefel wehten.
    Ein kräftiger Arm riß sie zurück ans sichere Ufer des Teichs. »Was soll das?« fauchte Jacob. »Bist du verrückt?«
    »Siehst du das denn nicht?« Sie betete, daß er sah, was sie sah, daß sie nicht im Begriff war, den Verstand zu verlieren.
    »Ich sehe gar nichts«, sagte Jacob mit zusammengekniffenen Augen. »Was soll denn da sein?«
    Auf dem Teich hob Hannah die Arme zum Nachthimmel empor. »Nichts«, sagte Katie mit glänzenden Augen.
    Die Behauptung, daß der Gottesdienst ewig dauerte, wäre nicht übertrieben. Die Kinder verblüfften Ellie, denn auch nach der Lesung aus der Heiligen Schrift und der zweistündigen Hauptpredigt gaben sie keinen Laut von sich. Eine kleine Schale mit Keksen und ein Glas Wasser waren von Raum zu Raum durchgereicht worden, für Eltern mit kleinen Kindern. Ellie vertrieb sich die Zeit, indem sie zählte, wie oft der Prediger sein weißes Taschentuch hob und sich damit über die Stirn fuhr. In der Reihe vor Ellie diente ein weiteres Taschentuch zur Ablenkung für ein kleines Mädchen, dessen Schwester Mäuse und Püppchen daraus knotete.
    Sie wußte, daß der Gottesdienst sich dem Ende zuneigte, weil sich eine allgemeine Unruhe breitmachte. Die Versammlung erhob sich, um den Segen zu empfanden, und als der Bischof den Namen Jesu erwähnte, fielen erneut alle auf die Knie und ließen Ellie einsam und verlegen stehen. Als sie wieder neben Katie Platz nahm, spürte sie plötzlich, wie deren Körper steif wurde wie ein Brett. »Was ist los?« flüsterte sie, doch Katie schüttelte nur verschlossen den Kopf.
    Jetzt sprach der Diakon. Katie beugte sich angespannt vor, lauschte und schloß dann erleichtert die Augen. Einige Reihen weiter vorn saß Sarah, und Ellie bemerkte, daß sie das Kinn auf die Brust sinken ließ. Ellie legte einen Finger auf Katies Knie und malte ein unsichtbares Fragezeichen. »Es wird keine Hauptversammlung einberufen«, murmelte Katie mit unverhohlener Erleichterung. »Es wird keine Disziplinierung geben.«
    Ellie betrachtete sie nachdenklich. Sie mußte neun Leben haben, daß sie zuerst dem amerikanischen Rechtssystem und dann den Strafmechanismen ihrer Glaubensgemeinschaft entgehen konnte. Nach einem weiteren gemeinsamen Lied wurden sie entlassen, dreieinhalb Stunden nach Beginn des Gottesdienstes. Katie eilte in die Küche, um die Tische für den Imbiß zu decken. Ellie wollte ihr folgen, blieb aber zwischen den einander begrüßenden Menschen stecken. Irgendwer schob sie zu dem Tisch, an dem die eingesetzten Männer aßen, und forderte sie auf, Platz zu nehmen. »Nein«, sagte Ellie mit einem Kopfschütteln. Ihr war klar, daß es eine gewisse Rangordnung gab und daß sie nicht als erste essen sollte.
    »Sie sind unser Gast«, sagte Bischof Ephram und deutete auf die Bank.
    »Ich muß Katie suchen.«
    Sie spürte zwei starke Hände auf ihren Schultern, und als sie sich umschaute, stand Aaron Fisher hinter ihr, um sie zum Tisch zurückzudirigieren. Er sah ihr in die Augen. »Es ist eine Ehre«, sagte er, und ohne ein weiteres Wort sank Ellie auf die Bank.
    Nie zuvor hatte Katie etwas Vergleichbares erlebt wie die Abschlußfeier am Penn State College – ein Fest voller Farben, durchsetzt mit silbernen Kamerablitzen, bei denen sie instinktiv zusammenzuckte. Als Jacob in seinem feierlichen Umhang und mit dem schwarzen Hut auf dem Kopf nach vorne ging, um seine Examensurkunde in Empfang zu nehmen, klatschte sie lauter als alle um sie herum. Sie war stolz auf ihn – ein seltsam unamisches Gefühl, und dennoch richtig in dieser englischen Universitätswelt. Beeindruckenderweise hatte er nur fünf Jahre gebraucht – einschließlich des Jahres, in dem er die High-School-Fächer nachholen mußte. Und obwohl Katie selbst keinen Sinn darin sah, nach der achten Klasse noch länger zur Schule zu gehen, wenn sie als Erwachsene doch einen Haushalt führen würde, konnte sie nicht leugnen, daß es für Jacob genau das Richtige war. Sie hatte oft in seiner Wohnung auf dem Boden gelegen und ihm zugehört, wenn er aus seinen Büchern vorlas, und ehe sie sich’s versah, war sie von Hamlets Zweifeln mitgerissen worden, von Holden Caulfields Gedanken beim Anblick seiner Karussell fahrenden

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