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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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gepflegt und klein, alle Grabsteine etwa gleich groß, so daß sich die ältesten von den jüngsten nur durch die eingemeißelten Daten unterschieden. Eine kleine Gruppe von Amischen stand in einer entlegenen Ecke des Friedhofs, und ihre schwarzen Kleider und Hosen flatterten wie Krähenflügel. Sobald wir aus der Kutsche gestiegen waren, gingen sie auf Sarah und Aaron zu, um sie zu begrüßen.
    Zu spät erkannte ich, daß die Fishers bloß ihre erste Station waren. Sie umringten mich und Katie, berührten ihre Wange und ihren Arm und tätschelten ihre Schulter. Sie murmelten Beileidsbekundungen, die in allen Sprachen gleich traurig klingen. Hinter uns hoben Samuel und Levi etwas von ihrer Kutsche, das die unverwechselbare Form eines kleinen Sarges hatte.
    Verstört löste ich mich aus der Gruppe und trat zu Samuel. Er stand mit den Schuhspitzen direkt am offenen Grab und sah hinunter auf die kleine Holzkiste. Ich räusperte mich, und er sah mich an. Wieso hat niemand Mitleid mit dir, wollte ich fragen, doch die Worte blieben mir im Hals stecken.
    Ein Auto kam langsam herangerollt und blieb hinter den Kutschen stehen. Leda und Frank stiegen aus, ganz in Schwarz. Ich sah an mir herunter, auf das T-shirt und meine Jeans. Wenn jemand mir gesagt hätte, daß wir zu einer Beerdigung fahren würden, hätte ich mich vorher umziehen können. Aber es sah ganz so aus, als hätte auch Katie nichts davon gewußt.
    Sie nahm die Beileidsbezeugungen ihrer Verwandten entgegen, fuhr jedes Mal leicht zusammen, wenn jemand sie ansprach, als würde sie geschlagen. Der Bischof und der Diakon, Männer, die ich vom Gottesdienst her wiedererkannte, traten an das offene Grab, und die kleine Gruppe sammelte sich um sie.
    Ich fragte mich, was Sarah und Aaron veranlaßt hatte, die Leiche eines Säuglings zu bestatten, den sie nicht offen als ihr Enkelkind akzeptieren wollten. Ich fragte mich, was Samuel wohl empfand, der etwas abseits stand. Ich fragte mich, wie Katie mit dem Ganzen fertig wurde, zumal sie hartnäckig abstritt, überhaupt schwanger gewesen zu sein.
    Katie, fest an der Hand ihrer Mutter, trat vor. Der Bischof begann zu beten, und alle Köpfe neigten sich – alle bis auf Katies. Sie blickte geradeaus, dann auf mich, dann zu den Kutschen hinüber – überallhin, nur nicht in das Grab. Schließlich wandte sie ihr Gesicht himmelwärts, wie eine Blume, und lächelte sanft, entrückt, als die Sonne auf ihre Haut schien.
    Aber als der Bischof alle aufforderte, leise das Vaterunser zu sprechen, riß Katie sich plötzlich von ihrer Mutter los, lief zu der Kutsche, stieg ein und war nicht mehr zu sehen.
    Ich wollte ihr folgen. Was Katie bislang auch gesagt hatte, diese Beerdigung hatte ganz offensichtlich irgend etwas ausgelöst. Ich hatte schon einen Schritt in ihre Richtung gemacht, als Leda meine Hand ergriff und mich mit einem knappen Kopfschütteln festhielt. Zu meiner eigenen Verwunderung blieb ich neben ihr stehen. Ich hörte mich selbst die Worte des Gebetes murmeln, Worte, die ich schon seit Jahren nicht mehr ausgesprochen hatte, Worte, von denen ich vergessen hatte, daß ich sie überhaupt kannte. Dann, bevor Leda mich wieder aufhalten konnte, eilte ich zur Kutsche und stieg ein. Katie saß zusammengesunken auf der Bank, den Kopf in den Händen vergraben. Unsicher strich ich ihr über den Rücken. »Ich kann mir vorstellen, wie schwer das für dich sein muß.«
    Langsam richtete Katie sich auf, machte den Rücken kerzengerade. Ihre Augen waren trocken; ihre Lippen leicht geschwungen. »Er ist nicht von mir, falls du das denkst.« Sie wiederholte: »Er ist nicht von mir.«
    »Schon gut«, beruhigte ich sie. »Er ist nicht von dir.« Aaron und Sarah stiegen ein, und die Kutsche fuhr an. Und mit jedem Schritt des Pferdes fragte ich mich, woher Katie wußte, daß der Säugling ein Junge gewesen war.
    Sarah hatte für die Trauergäste eine Mahlzeit vorbereitet. Sie stellte Platten mit Essen und Körbe voll Brot auf einen Tisch auf der Veranda. Mir unbekannte Frauen eilten in die Küche und wieder hinaus, lächelten jedesmal schüchtern, wenn sie an mir vorbeikamen.
    Katie war nirgends zu sehen, und was noch seltsamer war, niemanden schien das zu stören. Ich ließ mich mit einem vollen Teller auf einer Bank nieder und aß, ohne wirklich etwas zu schmecken. Ich dachte an Coop, und wie lange es wohl dauern würde, bis er hier war. Zuerst die Milch, jetzt die Beerdigung eines kleinen Leichnams – wie lange konnte Katie die Geburt

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