Die einzige Wahrheit
mich traurig, wenn ich denke, daß ich der Grund dafür sein könnte, daß meine Mutter weint.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, Rachels Worte haben sie mehr verletzt als mich. Ich bin alles, was meiner Mam geblieben ist.«
Katie richtete sich auf. Ihre Schürze wurde von der reichen Ernte schwer nach unten gezogen. Sie wandte sich zum Haus, sah jedoch in diesem Augenblick Samuel mit großen Schritten auf sie zukommen.
Er nahm den Hut ab, sein blondes Haar war schweißverklebt. »Katie. Wie geht’s dir heute?«
»Sehr gut, Samuel«, sagte sie. »Ich hab gerade Bohnen fürs Mittagessen gepflückt.«
»Ihr habt hier wirklich eine gute Ernte.«
Ich stand etwas abseits und hörte ihnen zu. Wo blieben die intim vertrauten Worte? Wo die leichte Berührung am Ellbogen oder Rücken? Bestimmt hatte Samuel inzwischen von dem Streit in der Quilt-Runde erfahren. Bestimmt war er hier, um Katie zu trösten. Ich wußte nicht, ob Paare in ihrer Welt so miteinander umgingen, ob Samuel sich zurückhielt, weil ich dabei war, oder ob diese beiden jungen Menschen sich wirklich nichts anderes zu sagen hatten – was seltsam gewesen wäre angesichts der Tatsache, daß sie zusammen ein Kind gezeugt hatten.
»Es ist etwas abgegeben worden«, sagte Samuel. »Vielleicht was Wichtiges.« Aha, jetzt kamen wir der Sache schon näher – eine vertraute Anspielung. Ich hob den Blick, gespannt, wie Katie reagieren würde, und merkte, daß Samuel mich angesprochen hatte, nicht sie.
»Für mich ist was abgegeben worden? Es weiß doch keiner, daß ich hier bin.«
Samuel zuckte die Achseln. »Es steht vor dem Haus.«
»Gut. Schön.« Ich lächelte Katie an. »Mal sehen, was mir mein heimlicher Verehrer diesmal geschickt hat.« Samuel drehte sich um und nahm Katies Arm, um sie vor das Haus zu führen. Ich ging hinter ihnen und sah, wie Katie sich ganz sachte aus seinem Griff wand.
Ein flacher Karton aus Wellpappe stand auf dem festgetretenen Boden vor dem Stall. »Die Polizei hat ihn gebracht«, sagte Samuel und starrte den Karton an, als vermutete er darin eine Klapperschlange.
Ich hob ihn hoch. Das Material der Staatsanwaltschaft war längst nicht so umfangreich, wie ich das von anderen Fällen her kannte – dieser eine kleine Karton enthielt alles, was die Polizei bislang zusammengetragen hatte. Man brauchte nicht viele Beweise für einen Fall, der klar war.
»Was ist das?« fragte Katie.
Sie stand neben Samuel und hatte den gleichen arglosen und fragenden Ausdruck im Gesicht. »Das kommt von der Staatsanwaltschaft«, erklärte ich. »Das sind die Beweise, die besagen, daß du dein Kind getötet hast.«
Zwei Stunden später waren um mich herum Aussagen und Dokumente und Berichte verstreut, die allesamt kein gutes Licht auf meine Mandantin warfen. Es gab ein paar Löcher in der Beweisführung – so mußte die DNA-Untersuchung erst noch beweisen, daß Katie tatsächlich die Kindesmutter war, und die Frühgeburt ließ es fraglich erscheinen, ob das Kind außerhalb des Mutterleibes hätte überleben können – doch ansonsten deuteten nahezu alle Beweise eindeutig auf sie. Es war nachgewiesen, daß sie am Tatort gewesen war; sie hatte kurz zuvor geboren; ihr Blut war an der Leiche des Säuglings gefunden worden. Da sie das Kind heimlich zur Welt gebracht hatte, war es ziemlich unwahrscheinlich, daß zufällig jemand anders vorbeigekommen war und das Kind getötet hatte. Andererseits lieferte gerade die heimliche Geburt der Staatsanwaltschaft ein Motiv: Eine Frau, die so handelt, wird vermutlich auch alles daran setzen, das Ergebnis dieser Geburt zu verbergen. Was die Frage offenließ, ob Katie zurechnungsfähig war oder nicht, als sie den Mord beging.
Als erstes mußte ich beim Gericht beantragen, daß die Kosten für ein psychiatrisches Gutachten übernommen wurden, und je eher ich diesen Antrag stellte, desto schneller würde ich den Scheck in Händen halten.
Ich stieg vom Bett und holte meinen Laptop darunter hervor. Der flache schwarze Koffer glitt über polierten Holzboden, so herrlich voll von Technik und synthetischen Materialien, daß ich am liebsten losgeweint hätte. Ich stellte ihn aufs Bett, klappte ihn auf und schaltete ihn ein. Nichts geschah.
Leise fluchend kramte ich nach dem Akku und schob ihn ein. Der Computer piepte, um mich darauf aufmerksam zu machen, daß der Akku aufgeladen werden mußte, und zeigte mir dann nur noch einen leeren, schwarzen Bildschirm.
Das war kein Weltuntergang. Ich konnte schließlich mit
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