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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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von mir entfernen.« Katie hob die Augen. Sie kannte Samuels Gesicht so gut wie ihr eigenes; sie waren als Verwandte, als Freunde aufgewachsen. Einmal, als sie elf war, hatte er sie auf einen Baum gejagt. Als sie sechzehn war, hatte er sie zum erstenmal geküßt, hinter Joseph Yoders Kälberverschlag. Sie spürte Samuels Hände ruhelos über ihren Rücken gleiten.
    Manchmal, wenn sie sich ihr Leben ausmalte, war es wie die endlose Reihe von Telefonmasten entlang der Route 340 – Jahr um Jahr, bis zum Horizont. Und wenn sie sich selbst sah, stand immer Samuel neben ihr. Er war alles, was gut für sie war, alles, was man von ihr erwartete. Er war ihr Sicherheitsnetz. Die Sache war nur, daß die meisten Amischen niemals den Blick von dem geraden und schmalen Weg hoben, um festzustellen, daß darüber das wunderbarste Drahtseil schwebte, über das man je im Leben balancieren könnte.
    Samuel legte seine Stirn gegen Katies. Sie konnte seinen Atem spüren, seine Worte, die auf sie fielen, und sie öffnete die Lippen, um sie aufzunehmen. »Das Baby war nicht von dir«, sagte er drängend.
    »Nein«, flüsterte sie.
    Er neigte das Gesicht so, daß ihre Münder sich berührten, offen und süß wie das Meer. Ihr Kuß schmeckte nach Salz, und Katie wußte, daß auf ihrer beider Wangen Tränen waren, aber sie wußte nicht mehr, wer von ihnen seine Traurigkeit an den anderen weitergegeben hatte. Sie öffnete sich für Samuel so, wie sie es nie zuvor getan hatte, wußte sie doch, daß er gekommen war, um diese Schuld einzutreiben. Dann wich Samuel zurück und küßte ihre Augenlider. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und murmelte: »Ich habe gesündigt.«
    Sie bedeckte seine Finger mit ihren Handflächen. »Hast du nicht«, widersprach sie.
    »Doch. Laß mich ausreden.« Samuel schluckte. »Das Baby. Das Baby war nicht unseres.« Er zog Katie näher an sich heran, vergrub das Gesicht in ihrem Haar. »Es war nicht unser Baby, Katie. Aber ich wünschte, es wäre es gewesen.«
    »Hast du je einen berührt?«
    Adam blickte von seinem Schreibtisch auf und lächelte, als er sah, daß Katie über eines seiner Arbeitshefte gebeugt saß. »Ja«, sagte er. »Zumindest in gewisser Weise. Man kann sie nicht packen, man spürt nur, daß sie irgendwie über einen kommen.«
    »Wie ein Windhauch?«
    Adam legte seinen Stift aus der Hand. »Eher wie ein Frösteln.«
    Katie nickte und las mit großem Ernst weiter. Es war das zweite Mal in dieser Woche, daß sie Jacob besuchte – was noch nie vorgekommen war –, und sie hatte für den Besuch einen Tag gewählt, an dem Jacob, wie sie wußte, bis nachmittags im College arbeiten mußte. Als Adam sich neben sie setzte, lächelte Katie. »Erzähl mir, wie das war.«
    »Ich war in einem alten Hotel auf Nantucket und bin mitten in der Nacht wach geworden. Eine Frau stand im Zimmer und sah zum Fenster hinaus. Sie hatte ein altmodisches Kleid an, und ihr Duft lag in der Luft – ein Geruch, den ich nicht kannte und den ich auch nachher nie wieder gerochen habe. Ich habe mich aufgesetzt und gefragt, wer sie sei, aber sie hat nicht geantwortet. Und dann merkte ich, daß ich die Fensterbank und die hölzernen Mittelpfosten durch sie hindurch sehen konnte. Sie hat mich ignoriert und ging direkt vom Fenster durch mich hindurch. Es fühlte sich … kalt an. Mir haben sich die Nackenhaare gesträubt.«
    »Hast du Angst gehabt?«
    »Eigentlich nicht. Sie schien gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, daß ich da war. Am nächsten Morgen habe ich den Besitzer darauf angesprochen, und er hat mir erzählt, daß das Hotel früher mal das Haus von einem Kapitän war, der ertrunken ist. Angeblich spukte nun seine Witwe darin herum und wartete noch immer auf die Rückkehr ihres Mannes.«
    »Das ist traurig«, sagte Katie.
    »Die meisten Geistergeschichten sind traurig.«
    Einen Moment lang dachte Adam, sie würde anfangen zu weinen. Er streckte die Hand aus und berührte Katies Kopf. »Ihr Haar war wie deins. Voll und glatt und länger, als ich es je gesehen hatte.« Als sie rot wurde, lehnte er sich zurück und verschränkte die Hände über den Knien. »Darf ich dich jetzt mal was fragen?«
    »Natürlich.«
    »Nicht, daß mir dein Interesse an meiner Arbeit nicht schmeicheln würde … aber du bist wirklich der letzte Mensch, von dem ich erwartet hätte, daß ihn so etwas fasziniert.«
    »Weil ich amisch bin, meinst du?«
    »Hm, ja.«
    Katie fuhr mit den Fingern über die Worte, die Adam getippt hatte. »Ich kenne diese

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