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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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noch einmal mit ihr reden. Über die Nacht vor der Geburt.«
    »Oh, das ist furchtbar nett von dir, aber du hast doch bestimmt keine Zeit dafür.«
    »Ich habe gesagt, daß ich dir helfe, El. Ich könnte am Abend zu euch rauskommen.«
    »Und deine Frau sitzt allein zu Haus am Tisch. Hast du mir nicht immer gesagt, daß gerade Psychologen es nicht schaffen, ihre Beziehungen zu pflegen?«
    Coop nickte. »Ja. Wahrscheinlich bin ich deswegen vor knapp einem Jahr geschieden worden.«
    Ich wandte mich zu ihm um. »Wirklich?« Er blickte auf die Strömung im Bach, und ich fragte mich, wieso es leicht war, über Katie zu sprechen, und so schwer, über uns zu sprechen. »Coop, das tut mir leid.«
    Er nahm von einem Baumstamm eine bunte Raupe, die sich in seiner hohlen Hand zu einer winzigen Trommel zusammenrollte. »Wir alle machen Fehler«, sagte Coop sanft. Er nahm meine Hand und hielt sie neben seine, und genau in diesem Moment entrollte sich die Larve wieder. Sie reckte sich und bildete eine kleine Brücke zwischen uns.
    Ich brauchte eine halbe Stunde, um Sarah davon zu überzeugen, Katie einen Vormittag lang in ihrer Obhut zu lassen. »Versteh doch«, sagte ich schließlich, »wenn ich eine Strategie für Katies Verteidigung entwickeln soll, brauche ich ein bißchen Bewegungsspielraum.«
    »Dr. Cooper ist auch zu uns gekommen«, wandte Sarah ein.
    »Dr. Cooper muß auch keine Laborausrüstung im Wert von einer halben Million Dollar mitschleppen«, erklärte ich. Ich hatte schnell gearbeitet, um die zwei Stunden herauszuschlagen, die ich brauchte, um mich mit Dr. Owen Zeigler in der neonatologischen Pathologie der Universität von Pennsylvania zu treffen. Owen war ein mondgesichtiger Mann mit glänzender Glatze und dickem Bauch.
    »Es muß eine Lebendgeburt gewesen sein«, teilte er mir mit, und meine Hoffnungen fielen in sich zusammen. »Der hydrostatischen Untersuchung nach zu schließen, ist Luft in die Alveolen gedrungen.«
    »Bitte drück dich verständlich aus, Owen.«
    Der Pathologe seufzte. »Das Kind hat geatmet.«
    »Daran besteht also kein Zweifel?«
    »Ob ein Neugeborenes, selbst eine Frühgeburt, Luft eingeatmet oder nur Flüssigkeit inhaliert hat, läßt sich an den Alveolen in der Lunge feststellen. Die weiten sich dann. Das ist ein verläßlicheres Anzeichen als der eigentliche hydrostatische Test, weil die Lunge sich auch dann entfaltet, wenn künstliche Beatmung versucht wurde.«
    »Ja, klar«, murmelte ich. »Sie hat es erst beatmet und dann umgebracht.«
    »Man kann nie wissen«, sagte Owen.
    »Und warum hat das Kind aufgehört zu atmen?«
    »Der Gerichtsmediziner spricht von Ersticken. Aber das steht noch nicht fest.«
    Ich kletterte auf den Hocker neben ihm. »Lassen Sie hören.«
    »In der Lunge sind Petechien, was auf einen Erstickungstod hindeutet, aber sie könnten auch nach dem Eintreten des Todes entstanden sein. Was den Bluterguß am Mund des Neugeborenen angeht, könnte der zum Beispiel auch vom Schlüsselbein der Mutter herrühren. Aber wenn das Neugeborene mit etwas Weichem erstickt wurde, etwa mit dem Hemd, in das es gewickelt war, oder mit der Hand der Mutter, sind die Anzeichen kaum von denen bei plötzlichem Kindstod zu unterscheiden.«
    Er streckte einen Arm aus und nahm mir den gläsernen Objektträger aus der Hand, mit dem ich geistesabwesend herumgespielt hatte. »Entscheidend ist: Das Kind kann ebensogut ohne jegliche Fremdeinwirkung gestorben sein. Mit zweiunddreißig Wochen ist ein Neugeborenes zwar lebensfähig, aber überaus empfindlich.«
    Ich runzelte die Stirn. »Hätte die Mutter gemerkt, daß das Kind vor ihren Augen starb?«
    »Kommt drauf an. Wenn es gewürgt hat, hätte sie es hören müssen. Wenn es erstickt ist, hätte sie sehen müssen, daß es um Luft rang und blau anlief.« Er schaltete das Mikroskop aus und schob den Objektträger – auf dem deutlich NEUGEBORENES FISHER stand – in eine kleine Kiste.
    Ich versuchte, mir Katie vorzustellen, vor Panik wie gelähmt, als sie merkte, daß dieses winzige, zu früh geborene Wesen nach Atem rang. Wie sie mit weit aufgerissenen Augen zusah, unfähig, irgend etwas zu tun. Wie sie dann zu spät begriff, was passiert war. Ich sah, wie sie das tote Kind in ein Hemd wickelte und es verzweifelt irgendwo versteckte.
    Ich malte mir aus, wie sie vor Gericht stand, angeklagt wegen unterlassener Hilfeleistung nach der Geburt des Kindes – nicht wegen Mordes. Aber dennoch ein Verbrechen, das auch mit Gefängnis bestraft

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