Die einzige Wahrheit
Farce zu behandeln, die man einfach hinnehmen, aber nicht glauben mußte. Ich dagegen sah mich einem Berg von erdrückenden Beweisen gegenüber. Alles schien bislang darauf hinzudeuten, daß Katie den Tod des Kindes herbeigeführt hatte. Ihre Schwangerschaft hatte sie vorsätzlich verborgen. Die Angst, nicht nur Samuel, sondern auch die Achtung ihrer Eltern zu verlieren, die Furcht, verstoßen zu werden – das war ein Motiv. Das hartnäckige Abstreiten unumstößlicher Fakten – mein Gefühl sagte mir, bei ihrer Erziehung war es für Katie die einzige Möglichkeit, mit etwas fertig zu werden, von dem sie verdammt gut wußte, daß es falsch war.
»Coop, ich hab drei Optionen für meine Verteidigung«, sagte ich. »Erstens: Sie hat’s getan, und es tut ihr leid, und ich überlasse sie der Gnade der Geschworenen. Aber das würde bedeuten, daß ich sie in den Zeugenstand rufen muß, und wenn ich das tue, merken sie, daß es ihr überhaupt nicht leid tut – Herrgott, sie glaubt ja nicht mal, daß sie die Tat begangen hat. Zweitens: Sie hat es nicht getan, jemand anderes hat’s getan. Eine gute Verteidigung, nur höchst unwahrscheinlich angesichts der Tatsache, daß es eine Frühgeburt war, die still und heimlich um zwei Uhr nachts stattfand. Und drittens: Sie hat’s getan, aber sie war zu dem Zeitpunkt in einem verwirrten, dissoziativen Zustand und kann deswegen nicht schuldig gesprochen werden.«
»Du hältst sie für schuldig«, wiederholte Coop.
Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Ich glaube, das ist meine einzige Chance, sie vor dem Gefängnis zu bewahren.«
Später am Nachmittag gingen Aaron und ich gleichzeitig in den Stall – ich wollte zu meinem Computer, Aaron die Kühe füttern. Plötzlich blieb er neben mir stehen. Eine der dicken Kühe im Kälberverschlag brüllte. Ein kleiner Huf ragte zwischen ihren Hinterbeinen hervor. Aaron griff sich ein Paar Gummihandschuhe, trat in den Verschlag und zog an dem Huf, bis ein winziger Kopf und ein zweiter Huf erschienen. Ich sah staunend zu, wie mit einem Geräusch, als würde ein Siegel aufgebrochen, ein blutiges Kalb hervorglitt.
Es landete ausgestreckt im Stroh. Aaron kniete sich hin und rieb ihm mit einem Strohbüschel über den Kopf. Die kleine Nase kräuselte sich, das Kalb nieste, und dann atmete es, stand auf, beschnupperte den Bauch seiner Mutter. Aaron spähte zwischen die kleinen Beine. »Es ist eine Kuh «, verkündete er.
Ja klar. Was hatte er erwartet – einen Wal?
Als könnte er meine Gedanken lesen, lachte er. »Eine Kuh «, wiederholte er. »Kein Bulle.«
Er zog die Handschuhe aus und stand auf. »Ist das nicht ein kleines Wunder?«
Die Mutter leckte mit ihrer rauhen Zunge über die nassen Wirbel im Fell ihres Kälbchens. Ich sah fasziniert zu. »Nein«, murmelte ich. »Ein großes.«
Als Katie hörte, daß Mary Esch einen Gesangsabend veranstaltete, flehte sie mich an, hingehen zu dürfen. »Du kannst ja mitkommen«, sagte sie. »Bitte, Ellie.«
Nach dem, was sie Coop erzählt hatte, wußte ich, daß das ein gesellschaftliches Ereignis war. Es würde mir Gelegenheit bieten, Katie im Umgang mit anderen amischen Jungs zu erleben, von denen vielleicht einer der Vater ihres Kindes war. So kam es, daß ich fünf Stunden später neben Katie vorn auf der Kutschbank saß, unterwegs zu einem Gesangsabend.
An diesem Abend hatte Katie etwas an sich – ein Strahlen, eine Hoffnung –, das meinen Blick immer wieder zu ihr hinzog. Ich versuchte, mich unauffällig im Hintergrund zu halten, und kam mir vor wie eine Anstandsdame auf einem Schulfest – kritisch und unangenehm alt.
Und dann entdeckte ich ein bekanntes Gesicht. Samuel stand mit einer Gruppe etwas älterer Jungen zusammen; diejenigen, so vermutete ich, die schon getauft, aber noch nicht verheiratet waren. Er hatte Katie den Rücken zugewandt und hörte einem aus der Gruppe zu. Als die anderen in Gelächter ausbrachen, lächelte Samuel schwach und ging.
Allmählich wanderten die Teenager zu zwei langen Picknicktischen. Am ersten saßen auf der einen Bank lauter Mädchen, auf der gegenüberliegenden lauter Jungen. Der zweite war offensichtlich für Paare vorgesehen: Jungen und Mädchen saßen Seite an Seite, ihre ineinander verschlungenen Hände in den Falten der Mädchenröcke verborgen. Eine junge Frau trat auf mich zu. »Ms. Hathaway, möchten Sie sich nicht hinsetzen?«
»Eigentlich«, lehnte ich ab, »würde ich lieber hier stehenbleiben und zusehen.«
Katie saß am Ende
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