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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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hätte hören können.«
    »Ist deine Fruchtblase geplatzt?«
    »Es war eher ein kleines Rinnsal, immer, wenn ich mich aufgesetzt habe.«
    »Hast du Blut gesehen?«
    »Ein bißchen, an der Innenseite der Oberschenkel. Deshalb bin ich nach draußen gegangen – ich wollte das Laken nicht schmutzig machen.«
    »Warum nicht?«
    »Weil Mam die Betten abzieht. Und ich wollte nicht, daß sie erfährt, was los war.«
    »Hattest du vor, in den Stall zu gehen?«
    » Ich hab eigentlich nie darüber nachgedacht, was passieren würde … wenn es soweit wäre. Ich wußte bloß, daß ich aus dem Haus mußte.«
    »Ist jemand im Haus aufgewacht, als du rausgegangen bist?«
    »Nein. Und es war niemand draußen oder im Stall. Ich bin in den Kälberverschlag gegangen, weil ich wußte, daß da für die trächtigen Kühe immer das sauberste Stroh liegt. Und dann … na ja, dann war es, als wäre ich einen Moment lang gar nicht dort. Als wäre ich irgendwo anders und würde bloß zusehen, was passiert. Und dann hab ich nach unten geguckt, und es war draußen.«
    »Mit ›es‹ meinst du das Baby?«
    Katie blickte auf, leicht verwirrt bei dem Gedanken, das Ergebnis jener Nacht mit einem so kleinen Wort zu bezeichnen. »Ja«, flüsterte sie.
    »Jährlich gibt es etwa zweihundert bis zweihundertfünfzig Kindstötungen, Ms. Hathaway. Von der Dunkelziffer ganz zu schweigen.« Teresa Polacci spazierte neben Ellie an dem Bach entlang, der die Grenze der Farm bildete. »In unserer Kultur ist das unvorstellbar. Aber in gewissen Kulturen, beispielsweise im Fernen Osten, wird Kindstötung noch immer toleriert.«
    Ellie seufzte. »Was sind das für Frauen, die ihr Neugeborenes töten?«
    »Meistens handelt es sich um unverheiratete Frauen, die zum erstenmal schwanger wurden, ungewollt. Normalerweise sind sie jung, zwischen sechzehn und neunzehn Jahre alt. Sie nehmen keine Drogen, sind nicht alkoholkrank und nicht vorbestraft. Es sind meistens nette, junge Mädchen, und gelegentlich stammen sie aus streng religiösen Familien, wo nicht über Sexualität gesprochen wird.«
    »Sie halten Katie also für ein Paradebeispiel.«
    »Was ihr Persönlichkeitsprofil und ihre religiöse Erziehung angeht, ist mir selten ein typischeres Beispiel untergekommen«, sagte Dr. Polacci. »Mehr als die meisten jungen Frauen in ihrem Alter hätte sie mit Schimpf und Schande sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie rechnen müssen, wenn sie vorehelichen Sex und Schwangerschaft gestanden hätte. Es geheimzuhalten war für sie der Weg des geringsten Widerstandes.«
    Ellie sah sie an. »Daß sie es geheimgehalten hat, legt nahe, daß sie eine bewußte Entscheidung getroffen hat.«
    »Ja. Irgendwann wußte sie, daß sie schwanger war – und sie hat es absichtlich verdrängt. Seltsamerweise war sie jedoch nicht die einzige. Es gibt da eine Verschwörung des Schweigens – die Menschen im Umfeld des Mädchens wollen meist nicht, daß sie schwanger ist, also nehmen sie die körperlichen Veränderungen nicht wahr oder tun so, als würden sie sie nicht wahrnehmen, was sich wunderbar in das Verdrängungssystem einfügt.«
    »Dann glauben Sie also nicht, daß Katie in einem dissoziativen Zustand war?«
    »Das habe ich nicht gesagt. Ich glaube, daß es psychologisch unmöglich ist, während der gesamten Dauer einer Schwangerschaft in einem dissoziativen Zustand zu verharren. Katie hat – ebenso wie viele andere Frauen, die einen Neugeborenenmord begangen haben und mit denen ich Gespräche geführt habe – ihre Schwangerschaft bewußt verdrängt und dann zum Zeitpunkt der Geburt unbewußt dissoziiert.«
    »Was heißt das genau?«
    »Das ist der Augenblick der Wahrheit. Diese Frauen stehen unter einem extremen Druck. Der Abwehrmechanismus, den sie entwickelt haben – Verdrängung –, wird durch die Geburt des Kindes zerstört. Sie müssen sich von dem Geschehen distanzieren, und die meisten Frauen – einschließlich Katie – werden Ihnen erzählen, daß sie nicht das Gefühl hatten, selbst dabei zu sein, oder daß sie sich selbst dabei zusahen, es aber nicht aufhalten konnten – gewissermaßen ein außerkörperliches Erlebnis. Manchmal löst die Geburt sogar eine temporäre Psychose aus. Und je mehr die Frauen in diesem Augenblick den Kontakt zur Realität verlieren, desto größer ist die Gefahr, daß sie das Neugeborene schädigen.
    Bei Katie liegen allerdings besondere Umstände vor. Aufgrund der Erfahrung mit ihrem Bruder hat sie eine äußerst simple

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