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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Überlebensstrategie entwickelt, bei der die Überzeugung eine Rolle spielt, daß sie, wenn Mom und Dad ihr Geheimnis herausfinden, verstoßen und aus dem Haus gejagt wird. Sie hat also bereits irgendwo im hintersten Winkel ihres Kopfes die Vorstellung, daß es irgendwie doch in Ordnung ist, die eigenen Kinder loszuwerden. Dann setzen die Wehen ein. Sie kann die Existenz des Kindes nicht länger verleugnen – also macht sie mit dem Baby das, wovor sie sich selbst fürchtet – sie verstößt es. Der dissoziative Zustand dauert lange genug, um die Geburt und den Mord hinter sich zu bringen, anschließend kehrt sie wieder zur Verdrängung als Abwehrmechanismus zurück, und so kommt es, daß sie, als sie von der Polizei zur Rede gestellt wird, sofort behauptet, kein Kind bekommen zu haben.«
    »Woran kann man feststellen, daß sie wirklich dissoziiert hat?«
    »Wenn sie von der Geburt spricht, macht sie dicht. Sie greift nicht auf andere Abwehrmechanismen zurück – beispielsweise Verdrängung oder noch primitivere.«
    »Moment mal«, sagte Ellie und blieb stehen. »Katie hat zugegeben, daß sie das Kind geboren hat?«
    »Ja, ich hab das auf Band.«
    Ellie schüttelte den Kopf. Sie kam sich irgendwie hintergangen vor. »In Gesprächen mit Coop hat sie das nicht getan.«
    »Es ist nicht ungewöhnlich, daß jemand einem forensischen Psychologen etwas Wichtiges gesteht, das er einem klinischen Psychologen verschwiegen hat. Ich spreche ja schließlich nicht mit ihr, damit sie sich besser fühlt, sondern um sie vor dem Gefängnis zu bewahren. Wenn sie mich belügt, schadet sie sich selbst. Meine Aufgabe ist es, die Schlangengrube aufzudecken, während der klinische Psychologe dabei helfen sollte, sie endgültig zuzuschütten.«
    Ellie blickte auf. »Hat Sie Ihnen auch erzählt, daß sie das Kind getötet hat?«
    Die Psychologin stockte. »Nein, das nicht. Sie sagt, an zwei entscheidende Dinge kann sie sich nach wie vor nicht erinnern: die Zeugung des Babys und seine Ermordung.«
    »Könnte sie beide Male in einem dissoziativen Zustand gewesen sein?«
    »Absolut möglich, daß sie während der Geburt und der Tötung des Kindes dissoziiert hat. Tatsächlich deuten die Ungereimtheiten zwischen ihrer Erinnerung und den forensischen Erkenntnissen genau darauf hin. Aber was den Sex angeht … also, das vergessen diese Frauen normalerweise nicht.«
    »Und wenn es ein traumatisches Erlebnis für sie war?« fragte Ellie.
    »Sie meinen Vergewaltigung? Möglich, aber für gewöhnlich gestehen Frauen, vergewaltigt worden zu sein, es sei denn, sie wollen jemanden schützen. Ich habe das Gefühl, daß in Katies Fall mehr dahinter steckt.«
    Ellie nickte. »Und die Tötung?«
    »Die Nacht vor der Geburt, die Geburt selber und wie sie mit dem Kind im Arm eingeschlafen ist, all das hat Katie sehr detailliert beschrieben. Sie sagt, als sie aufwachte, war das Baby fort, ebenso wie die Schere, mit der sie die Nabelschnur durchtrennt hat.«
    »Hat sie nach dem Kind gesucht?«
    »Nein. Sie ist zurück auf ihr Zimmer gegangen, um zu schlafen. Und das entspricht hundertprozentig den Verhaltensmustern von Frauen, die ein Neugeborenes getötet haben – das Problem ist aus den Augen, aus dem Sinn.« In Ellies Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Wie lange war sie im Stall ohnmächtig?«
    »Das weiß sie angeblich nicht.«
    »Den Polizeiberichten nach zu schließen, kann es nicht lange gewesen sein«, kombinierte Ellie. »Was wenn –«
    »Ms. Hathaway, mir ist klar, was Sie vermuten. Aber bedenken Sie – bis jetzt hat Katie sich nicht mal an die Geburt erinnert. Wer weiß, was morgen ist? Es könnte sein, daß sie sich in allen gräßlichen Einzelheiten erinnert, wie sie das Kind erstickt hat. Sosehr wir uns auch wünschen, daß sie das Neugeborene nicht getötet hat, wir müssen ihre Erinnerungen mit Vorbehalt betrachten. Dissoziation bringt es nun mal mit sich, daß es Zeitlücken und logische Widersprüche gibt. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie das Baby tatsächlich getötet hat, ist leider schrecklich hoch, selbst wenn sie nie in der Lage sein wird, es explizit zuzugeben.«
    »Dann halten Sie sie also für schuldig«, sagte Ellie.
    »Ich denke, daß sie dem Persönlichkeitsprofil vieler Frauen entspricht, die im dissoziativen Zustand ihre neugeborenen Kinder getötet haben«, korrigierte die Psychologin. »Ich denke, daß ihr Verhaltensmuster dem entspricht, was wir über das Phänomen des Neonatizids wissen.«
    Ellie blieb stehen.

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