Die einzige Zeugin
wenn sie im Bett ihrer Mutter schlafen durfte. Wenn sie krank oder traurig war, war das große Bett ihre Rettungsinsel. Wenn sie mitten in der Nacht mit Halsschmerzen oder Bauchweh aufwachte und nach ihren Eltern rief, kamen ihre Mutter oder ihr Vater über den Flur getappt und nahmen sie mit ins große Bett, wo sie zwischen ihnen schlafen durfte. Als Daisy geboren wurde, war es damit vorbei. Wenn es ihr schlechtging oder sie nach einem Albtraum aufwachte, kam ihr Vater in ihr Zimmer und legte sich neben sie, bis sie wieder eingeschlafen war. Daisy war jetzt die Nummer eins. Als ihr Vater nicht mehr bei ihnen wohnte, durfte sie manchmal mit im großen Bett schlafen, aber es war nicht so schön wie früher. Ihre Mutter ermahnte sie immer, still zu sein, damit Daisy nicht aufwachte. Hör auf zu schniefen. Wälz dich nicht hin und her. Meistens schlief sie in ihrem eigenen Bett. Manchmal kam Jessica aus ihrem Zimmer im Dachboden herunter und beruhigte sie oder erzählte ihr eine Geschichte.
Aber ab einem bestimmten Tag in jenem Sommer (sie glaubte, es war der Tag mit den Fensterläden) durfte sie jede Nacht bei ihrer Mutter im Bett schlafen. Nur wir drei. Das ist doch kuschelig, hatte ihre Mutter gesagt.
Wie lange war das so gegangen? Eine Woche? Zwei Wochen?
Sie drehte sich auf die Seite, legte sich das Kissen unter den Nacken und dachte an jene Tage.
Sie war immer früh aufgewacht. Das Licht schob sich ins Schlafzimmer und machte sie unruhig. Sie versuchte, still zu liegen, aber oft kroch sie ganz vorsichtig aus dem Bett, lief zum Puppenhaus und spielte leise. Sie schaute durch die kleinen Fenster auf die Gegenstände im Inneren. Es war nicht möglich, etwas zu bewegen, ohne ein Geräusch zu machen, also musste sie ihre Phantasie benutzen. Am Esstisch saßen vier Personen. Die Frau trug ein langes Kleid und hatte das Haar zu einem Knoten aufgesteckt. Der Mann trug einen schwarzen Anzug. Sie saßen einander gegenüber und sie stellte sich vor, dass sie sich über die Kinder unterhielten, die, wie sie sehen konnte, ein Stockwerk höher im Bett lagen. Nach einer Weile stellte sie sich vor, wie die Hand der Frau über den Tisch wanderte und der Mann sie lächelnd ergriff. Manchmal konzentrierte sie sich auch auf die Küche, wo die Haushälterin am Herd stand. Sie schaute und schaute. Es bewegte sich nichts, aber in ihrem Kopf klapperte die Haushälterin mit Töpfen und Pfannen.
Die Geschichten spannen sich nie sehr weit fort. Hinter sich konnte Lauren Daisy leise glucksen hören. Gleich würde sie zu weinen anfangen und ihre Mutter wecken wie jeden Morgen.
Du bist doch nicht schon wieder am Puppenhaus, Lauren? Sei vorsichtig, sagte ihre Mutter immer. Das ist kein Spielzeug, das ist eine Antiquität. Damit spielt man nicht.
Dabei hatte sie doch gesehen, dass ihre Mutter selbst damit spielte.
Lauren öffnete die Augen. Dann setzte sie sich im Bett auf. Diese Position war unbequem. Sie schob die Kissen zu einer Stütze zusammen und lehnte sich zurück. Dann starrte sie in das leere Erkerfenster. Da war etwas, das sie gleichzeitig beunruhigte und erregte. Sie hatte wirklich gesehen, dass ihre Mutter mit dem Puppenhaus spielte. Sie erinnerte sich, dass es spät abends gewesen war.
Das Zimmer war dunkel und das einzige Licht kam von der Straße. Ihre Mutter saß im Schneidersitz vor dem Puppenhaus im Erker. Es war geöffnet, und sie schien mit den kleinen Puppen und den Möbeln zu spielen. Daisy war in ihrem Bettchen, und der Platz neben ihr war leer. Die Decke war zerdrückt, als hätte ihre Mutter bis vor kurzem noch neben ihr gelegen, aber jetzt war sie auf, saß vor der alten Truhe und spielte mit dem Puppenhaus.
Es war mitten in der Nacht. Das wusste sie, weil es im Haus und auf der Straße vollkommen ruhig war. Ihre Mutter saß in ihrem weißen Nachthemd vor dem Puppenhaus und verrückte die Möbel. Sie flüsterte vor sich hin. Vielleicht dachte sie sich Geschichten über die Leute im Haus aus, genau wie Lauren.
Lauren sah es vor sich, als wäre es gestern gewesen. Sie ließ das Bild immer wieder in ihrem Kopf ablaufen, während ihr die Augen zufielen. Ihr Kopf war schwer vom Alkohol, ihr Mund trocken. Sie fühlte sich tiefer in die Kissen sinken. Sie hatte zu viel getrunken und würde am nächsten Morgen mit Sicherheit Kopfschmerzen haben. Sie schloss die Augen. Ihre Gedanken lösten sich auf, ihr Körper entspannte sich, und sie schlief ein.
Es war nur ein Traum. Im Zimmer wurde es gerade hell. Lauren
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