Die Eisbärin (German Edition)
bewusst verschwiegen, um eine authentische Reaktion des Arztes zu erhalten. Doch als dieser hörte, dass es um Lüscher ging, berief er sich auf die Schweigepflicht, die auch über den Tod des Patienten hinaus gültig ist. Damit hatten die Ermittler nicht gerechnet. Der Arzt nahm sein Recht in Anspruch, und dagegen waren sie völlig machtlos.
Die Frage nach Alois Weinheimer blieb ebenso erfolglos. Offenbar war Dr. Ehrmann nicht empfänglich für das einschüchternde Moment der Kriminalpolizei. Die Beamten hätten ihn offiziell vorladen und über seine zeugenschaftlichen Rechte belehren müssen, hielt er ihnen vor. Angesichts der deprimierenden Erfolglosigkeit ihres Besuches blieb Bergmann und Klein nichts anderes übrig, als mit leeren Händen zurückzukehren.
Klar war nur, dass sie Alois Weinheimer gleich am nächsten Morgen zum zweiten Mal besuchen mussten. Der alte Mann hielt etwas vor ihnen geheim, dessen waren sich beide nun sicher. Klein beschlich das untrügliche Gefühl, dass dieses Geheimnis für den Fall Lüscher von erheblicher Bedeutung war.
Als Klein gegen 01.30 Uhr schließlich ins Bett fiel, drehte sich die Erde in ihrem eigenen, schwindelerregenden Rhythmus. Klein hatte nach Feierabend wieder einmal seinen Bruder besucht, und Berthold hatte ihm so oft nachschenken müssen, dass er dem Gast schließlich genervt die ganze Whiskeyflasche auf den Tresen stellte. Nun bereute Günther Klein jedes einzelne dieser Gläser und verfluchte sich dafür, denn am nächsten Morgen würde er mit dem Bus zum Präsidium fahren müssen. Sein eigener Wagen stand noch vor dem Kohlenkeller auf einem kostenpflichtigen Parkplatz.
Die letzten noch aktiven Windungen seines Hirns registrierten ein Gepolter irgendwo über ihm, hitzige Stimmen drangen durch das dünne Mauerwerk. Der folgende Knall war dumpf, der Schrei spitz und kurz. Dann fiel er in bewusstlosen Schlaf.
Samstag, 27. November, 08.50 Uhr
Die Bremsschwellen im Bereich der Tempo-30-Zone erschienen Klein wie moderne Folterinstrumente. Jedes Schaukeln, jeder Ruck, jedes Geräusch verursachte einen Schmerz in seinem Kopf, der sich anfühlte, als träfe ihn die Wucht einer Abrissbirne. Die doppelte Aspirin am Morgen hatte nicht den gewünschten Erfolg gebracht, und Klein war dankbar, dass Bergmann die Feinfühligkeit besaß, die Fahrt schweigend mit ihm zu verbringen.
Erst vor wenigen Tagen waren sie hier gewesen, doch die Gegend erkannte er kaum wieder. Klein konnte nicht sagen, ob es an seinem ausgeprägten Kater lag oder an dem nasskalten Novembermorgen, dessen diffuses Licht alles in einen grauen und trostlosen Schleier hüllte.
Erst als sie an dem Fahrradgeschäft mit dem geflügelten Drachen im Schaufenster vorbeifuhren, konnte er sich wieder erinnern. Nächste Einmündung links, dann waren sie auf der Straße mit den riesigen Grundstücken, auf denen die Menschen wohnten, deren Sorgen sich nicht um gestiegene Mieten oder die nächste Ratenzahlung drehten.
„Was ist das denn?“
Es waren Bergmanns erste Worte, und sie stieg unwillkürlich auf die Bremse, was sofort einen pochenden Druckschmerz in Kleins Schädel hinterließ.
„Scheiße, ich halt das nicht aus“, fluchte er und registrierte, wie die eigenen Worte ihm neuen Schmerz bereiteten. Gequält folgte er Bergmanns Blick. Durch die Schlieren aus Dunst und Sprühregen erkannte er das Blitzen von Blaulichtern vor dem schweren Eisentor. Bergmann fuhr ein Stück näher heran und hielt am rechten Fahrbahnrand. Klein betrachtete die Fahrzeuge der Feuerwehr, den großen Rettungswagen und den kleineren davor, in dem der Notarzt gefahren wurde. Auch ein Streifenwagen war vor Ort und versperrte die Einfahrt zum Haus der Weinheimers.
„Vielleicht seine Frau“, vermutete Bergmann.
„Vielleicht“, hauchte Klein und schälte sich aus dem Wagen. Doch im Grunde glaubte er nicht daran. Er ahnte bereits, was sie erwarten würde.
Langsam gingen sie zu den Fahrzeugen auf der anderen Seite, doch es war niemand dort. Sie blickten hinüber zum Haus. In der Ferne konnten sie erkennen, dass die Haustür offen stand, sonst war nichts zu hören oder zu sehen.
„Das ist ja beinahe gespenstisch“, sagte Bergmann. Sie zog ihre Jacke zurecht, aber Klein entging nicht, dass ihr eigentlicher Handgriff dabei der Überprüfung ihrer Waffe galt, die sie stets in ihrem Schulterholster trug.
„Komm, wir sehen nach“, sagte er und stapfte über den feuchten Kies. Zu Fuß erschien der Weg beinahe endlos lang, und das
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