Die Eisbärin (German Edition)
Knirschen der Steinchen auf dem Boden verursachte ein unangenehmes Echo in seinem Kopf. Sie hatten kaum die Stufen zum Eingangsbereich erreicht, als plötzlich ein junger Polizist erschien. Offenbar hatte er direkt hinter der Tür gestanden und gewartet. Klein konnte es ihm angesichts der frostigen Temperaturen nicht verdenken.
„Wer sind Sie?“, fragte der junge Mann und versuchte, eine Autorität in seine Stimme zu legen, die genauso wenig zu ihm passte wie die Knollennase in seinem Gesicht.
Klein holte geduldig Ausweis und Marke hervor.
„Klein. Kriminalpolizei Essen“, sagte er. „Das ist Frau Bergmann. Wir möchten zu Herrn Alois Weinheimer.“
Der junge Beamte akzeptierte diese Erklärung, ohne weiter nachzufragen, und gab bereitwillig Auskunft. Dabei schielte er immer wieder zu Bergmann hinüber.
„Wir haben vor einer halben Stunde den Einsatz bekommen. Die Haushälterin hat heute früh zwei leblose Personen entdeckt und sofort den Notarzt gerufen. Sie sagt, es sei das Ehepaar Weinheimer. Mein Kollege war gerade oben. Die Sanitäter haben alles versucht, aber wie es aussieht, sind beide tot. Näheres weiß ich auch noch nicht.“
Klein sah zu Boden und schloss die Augen. In diesem Moment hätte er alles dafür gegeben, sich in Luft aufzulösen und wie ein Geist an einen anderen Ort zu schweben. Weg von all den Toten, weg von Boger und der Präsidentin, weg von seinen Kopfschmerzen und dem nasskalten Novemberwetter.
Er verdrängte die Gedanken, hob den Blick und betrachtete den Uniformierten. „Wissen die Kollegen Bescheid?“
„Ja“, entgegnete der Polizist beflissen. „Die Leute von der Kriminalwache sind unterwegs.“
In diesem Augenblick vernahm Klein ein Wirrwarr gedämpfter Stimmen im Hintergrund. Koffer und Gerätschaften wurden bewegt, dann hörte er Schritte. Kurz darauf sah er die leuchtende rot-gelbe Jacke, in der der kleine Notarzt förmlich zu ertrinken schien. An den stark verschwitzten, müden Gesichtern seiner Assistenten konnte er bereits erkennen, dass alle Bemühungen vergebens geblieben waren.
Klein stellte sich vor und erfuhr, dass die Eheleute tot in ihren Betten lagen. Der Arzt vermutete irgendein Gift und hatte auf dem Totenschein eine unbekannte Todesursache vermerkt. Alois und Hildegard Weinheimer würden obduziert werden müssen, wie es in einem solchen Fall vorgeschrieben war.
Klein nickte und ließ den Arzt passieren. Dann fiel sein Blick auf das Schloss der schweren Haustür. Keine Spuren eines Aufbruchs. Er hätte alles darauf gesetzt, dass auch an den übrigen Türen und Fenstern nichts zu finden war. Alois Weinheimer hatte sein Geheimnis mit ins Grab genommen. Und er hatte selbst dafür gesorgt.
„Vielen Dank“, hauchte er in Richtung des Polizisten und reihte sich gerade hinter den Sanitätern in die stumme Prozession zur Straße ein, als er seinen Namen hörte. Er drehte sich um und blickte in das verweinte Gesicht der Haushälterin, die ihn beim letzten Besuch so misstrauisch beäugt und sich danach als so herzlich erwiesen hatte. Schwester Augusta zitterte noch immer am ganzen Leib, und ihr zarter Körper erweckte den Eindruck, als könne er jeden Moment einfach in der Mitte auseinanderbrechen.
Klein hastete die Veranda hoch, wobei er sich zwang, seinen Schmerzen nicht mehr die volle Aufmerksamkeit zu widmen. Er dachte, sie würde ihn bitten, wieder hereinzukommen, aber das tat sie nicht. Sie stand in der Tür, und Kleins Unterbewusstsein registrierte die unsichtbare Mauer, die sie errichtet hatte. Es schien, als wolle sie das Ehepaar schützen, es vor noch mehr fremden Eindringlingen bewahren. Loyal und ergeben bis über den Tod ihrer Anvertrauten hinaus. In ihrer zittrigen Hand erkannte Klein einen Briefumschlag.
„Der lag auf seinem Nachtschrank. Oben im Schlafzimmer …“ Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen, und ihre Stimme versagte. Klein ließ ihr Zeit, sich zu fangen. „Es steht Ihr Name drauf“, hauchte sie nach einer Weile und hielt ihm den Umschlag hin. Klein nickte und nahm ihn entgegen. Er blickte der alten Frau einen Moment lang fest in die Augen.
„Es tut mir aufrichtig leid“, sagte er in einem Tonfall, der keinen Zweifel an der Ehrlichkeit seiner Worte ließ. Dann drehte er sich um, steckte den Umschlag in die Innentasche seiner Jacke und verließ mit Bergmann das Weinheimersche Anwesen. Er spürte den Brief wie eine tonnenschwere Last auf seiner Brust. Was hatte ihm der Tote so Wichtiges mitteilen wollen? Vielleicht hatte
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