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Die Eisbärin (German Edition)

Die Eisbärin (German Edition)

Titel: Die Eisbärin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Gereon
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und spähte hinüber zum Spielplatz. Sie erkannte zwei kleine Mädchen in bunten Jacken. Der Spielplatz hatte auf der dem Wald abgewandten Seite einen zweiten Zugang. Viele Kinder aus dem angrenzenden Neubaugebiet kamen regelmäßig hierher. Bergmann fokussierte ihren Blick noch stärker und entdeckte ihn. Dort stand er, rücklings an einen Baumstamm gelehnt, den weiten Mantel geöffnet, seine Hand in Höhe seines Geschlechts. Er hatte den Kindern den Weg abgeschnitten, so dass diese nicht einfach weglaufen konnten.
    Bergmann hätte am liebsten laut aufgeschrien vor Wut, doch sie wusste, dass sie nur diese eine Chance bekommen würde. Langsam schlich sie näher, von einer Deckung zur nächsten. Dann war sie am Weg, der ihr für einen Moment lang jegliche Deckung nehmen würde. Sie schätzte die Entfernung zum Spielplatz auf 60 Meter. Der Mann stand seitlich zu ihr, so dass ein gewisses Risiko bestand, dass er sie zu früh entdeckte. Sie wartete auf einen günstigen Moment, dann sprintete sie los und steuerte auf den nächsten, dicken Stamm zu, auf der anderen Seite des Weges. Sie hatte ihn beinahe erreicht, als sie mit dem Fuß auf einen großen, halbmorschen Ast trat. Das Geräusch war zu laut. Der Mann hielt inne, blickte in ihre Richtung, und für einen Moment starrten sie sich gegenseitig in die Augen. Dann rannte er los. Er sprang über einen niedrigen Zaun und nahm den Weg in den Wald hinein. Bergmann warf einen Blick zu den Kindern, die noch immer völlig verängstigt auf dem Boden kauerten.
    „Lauft nach Hause!“, schrie sie ihnen entgegen und wartete, bis sich die Mädchen in Bewegung setzten. Dann drehte sie sich um und nahm die Verfolgung auf. Sie lief so schnell, dass ihr die Koordination der Beine zu versagen drohte, so schnell, dass sie die Pause zwischen den einzelnen Herzschlägen kaum noch ausmachen konnte. Der Mann hatte einen großen Vorsprung, aber der Mantel würde ihn beim Laufen behindern. Bergmann befürchtete bereits, ihre Lunge könne platzen, als er endlich vor ihr auftauchte. Mit wehendem Mantel lief er jetzt vor ihr, noch etwa 50 Meter entfernt. Offenbar spürte er ihre Anwesenheit, denn sein Schritt schien sich zu beschleunigen. Bergmann spürte die Grenzen ihres Körpers, aber der Hass in ihr war stärker, als sämtliche Warnsignale es je hätten sein können.
    Ein letztes Mal erhöhte sie ihr Tempo. Noch eine Minute, dachte sie, während ein kaltes Zittern durch ihre Muskeln kroch.
    Sie war bis auf acht Meter herangekommen, als sich der Mann vor ihr plötzlich umdrehte. Sie sah seinen hochroten Kopf und wusste, dass sie es geschafft hatte. Mit der Wucht eines Ambosses warf sie sich ihm entgegen und … verfehlte ihn. Eine der zahlreichen Unebenheiten auf dem schlüpfrigen Waldboden wurde ihr zum Verhängnis. Bergmann kam aus dem Tritt, geriet ins Trudeln und schlitterte in den Matsch am Wegesrand. Die Gummisohle der Laufschuhe brach weg wie auf Eis, und sie landete bäuchlings im Schlamm. Ihr wütender Aufschrei ließ den Flüchtenden über die Schulter zurückblicken. Verblüfft und ungläubig, als könne ihn die zornige Furie doch noch mit einem Blitzschlag zur Strecke bringen, registrierte er die neue Situation. Es schien, als verliehe ihm Bergmanns Scheitern neue Kraft. Die stampfenden Schritte beschleunigten sich, und wenige Sekunden später war der flatternde Mantel hinter der nächsten Biegung verschwunden. Bergmann spuckte die Erde aus und versuchte, sich aufzurappeln. Keuchend entkam sie dem Schlamm, doch sie spürte, dass ihr Missgeschick nicht folgenlos geblieben war. Ihr Knöchel schmerzte höllisch, an eine weitere Verfolgung war nicht mehr zu denken. Mit zittrigen Fingern fischte sie das Handy aus der Neoprentasche an ihrem Oberarm. Das Gerät war trocken geblieben, aber vor dem Sturz hatte der dünne Stoff nicht schützen können. Bergmann versuchte, die Anruffunktion zu starten, doch das zersplitterte Display war tot. In einem Aufschrei ihrer Wut schleuderte sie das Gerät gegen den Stamm einer Buche. Das Handy zerbrach, und die Einzelteile versanken mit Bergmanns Hoffnung im Dreck. Sie hatte versagt. Der Exhibitionist war entkommen und nun für alle Zeiten gewarnt. Kurzfristig würde die Belästigung von Kindern aufhören, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sich der Mann an weitere Opfer heranschleichen würde. Vielleicht würde er sogar mutiger werden, vielleicht würde er es nicht länger dabei belassen, sich Kindern nur zu zeigen. Bergmann verspürte

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