Die Eisbärin (German Edition)
ihrem eisernen Griff. Er würde niemals davor weglaufen können, das wurde ihm mit aller Klarheit bewusst.
Er stand auf, wusch sein Gesicht und wechselte das Hemd. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, verließ er die Wohnung und begab sich ein Stockwerk höher.
Als er gegen kurz vor neun Uhr bei Irina klingelte, war er der festen Überzeugung, dass zwei geschlagene Seelen ebenso gut gemeinsam trauern konnten.
Montag, 13. Dezember, 15.30 Uhr
Sie spürte das Aufspritzen des feuchten Bodens unter ihren Schuhen und achtete darauf, wenigstens den größeren Pfützen auszuweichen. Die Wolkendecke brach vereinzelt auf, aber die letzten fünf Tage hatte es beharrlich durchgeregnet.
Jenny dachte an Sabine, dachte an ihre Freundin und an Afrika, wo sie gerade bei 30 Grad und kühlen Drinks unter blauem Himmel liegen könnte. Aber vor allem und in erster Linie dachte sie an Laura. Seit der Festnahme und dem Freitod ihrer Mutter lebte das Mädchen bei den Großeltern in Velbert, wo der Rummel sie ein wenig verschonte. Bergmann besuchte sie an jedem Tag, malte, redete oder puzzelte mit ihr im Zimmer, ging spazieren oder bot einfach nur ihre Schulter, wenn Lauras Trauer Überhand gewann. Es war ein Experiment. Sie hatte nicht wissen können, ob Laura sich auf sie einlassen würde, und sie wusste noch immer nicht, ob es überhaupt eine gute Idee war. Als Polizistin musste sie klare Grenzen ziehen. Ihr Beruf durfte sich mit ihrem Privatleben nicht vermischen. Ansonsten würde er sie auffressen. Aber Bergmann fühlte sich verantwortlich, hatte eine besondere Beziehung zwischen ihr und Laura von Anfang an gespürt. Und sie hatte recht damit gehabt. Laura hatte langsam Vertrauen zu ihr gefasst, erzählte ihr Dinge, die sie einem Fremden gegenüber niemals erzählt hätte. Jennifer Bergmann hatte eine Freundin dazugewonnen und würde es niemals zulassen, dass der Kontakt abriss. Irgendwann würde Laura sie nicht mehr brauchen, aber bis dahin würde sie für sie da sein.
Bergmann horchte in sich hinein und fühlte sich gut in Form. Zur Kontrolle warf sie einen Blick auf die Uhr, die über Funk mit einem Sensor verbunden war, der ihren Herzschlag erfasste. Ihr Puls lag bei 140, genau im Bereich ihrer Trainingsfrequenz.
Sie lauschte in den Wald. Doch außer ihrer tiefen, regelmäßigen Atmung war nichts zu hören. Sie joggte schon seit 20 Minuten, war aber noch niemandem begegnet. Im Sommer konnten es gut und gerne 100 Autos sein, die auf dem Parkplatz standen. Der Wald war ein beliebtes Ziel für Naherholungssuchende. Aber heute hatte außer ihrem Wagen lediglich ein weiterer dort geparkt. Ein alter Mercedes, wahrscheinlich ein Rentner, der eine einsame Runde mit seinem Hund drehte.
Bergmann bog auf eine längere Gerade ein, sie hatte jetzt etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Der abschüssigere Teil lag hinter ihr, der zweite war wesentlich anstrengender. Es dämmerte bereits leicht, und die nahende Dunkelheit war Ansporn genug, nicht schlappzumachen.
Sie hatte gerade eine enge Abzweigung passiert, als sie etwas hörte. Sie wusste, dass die Tiere des Waldes die erstaunlichsten und unheimlichsten Geräusche machen konnten, aber das hier war kein Tier. Dann hörte sie es erneut, und diesmal drang der Schrei durch bis ins Mark. Es war schwer, die Richtung auszumachen, weil der Schall durch die Bäume versprengt wurde, aber sie glaubte, dass der Schrei von links gekommen war. Bergmann überlegte fieberhaft. Der Weg würde sie in einer großen Schleife in diese Richtung führen, aber zunächst führte er davon weg. Wieder klang der Schrei in ihren Ohren, aber sie wusste, dass es dieses Mal nur ein Echo in ihrem Unterbewusstsein war. Dann kam ihr die Erkenntnis. Der Spielplatz! Am anderen Ende der Schleife befand sich der große Kinderspielplatz. Eines wusste sie sicher: Es war kein fröhlich spielendes Kind gewesen, das dort geschrien hatte. Im Bruchteil einer Sekunde fasste sie ihren Entschluss. Sie verließ den befestigten Weg und schlug sich durch das Unterholz. Die Brombeersträucher waren zum großen Teil vertrocknet und konnten ihr nicht mehr gefährlich werden. Dennoch verhakten sich immer wieder einzelne Stacheln in dem dünnen Stoff ihrer Hose und hinterließen blutige Kratzer auf ihrer Haut. Bergmann achtete nicht darauf. Angetrieben von Unruhe und Wut, bahnte sie sich ihren Weg durch den Wald.
Keine drei Minuten später war der Weg wieder in Sicht. Keuchend schlug sie sich hinter den dicken Stamm einer Kastanie
Weitere Kostenlose Bücher