Die Eisbärin (German Edition)
Wie durch ein langsam wirkendes Gift hatte eine schleichende Veränderung begonnen, eine Mutation ihrer Persönlichkeit, eine Neukonstellation ihrer Sterne. Es war, als ob ihr Schöpfer plötzlich einen neuen Plan für sie ersonnen hätte und nun begann, sie umzuprogrammieren, damit sie ihrer neuen Aufgabe gerecht werden konnte.
Aber sie würde kämpfen. Sie würde nicht tatenlos mit ansehen, wie sich das Böse ihrer Seele bemächtigte. Das Einzige, was sie wollte, war, ihr altes Leben zurückzubekommen – ein Leben ohne Angst.
Sie schüttelte die Gedanken ab und befühlte ihren Hinterkopf. Die Wunde war gut verheilt, und die Tage, in denen sie als Folge der Erschütterung von dumpfen Kopfschmerzen gequält wurde, waren vorbei. Sie dachte noch einmal daran, wie viel Glück sie gehabt hatte. Um ein Haar wäre es Herbert Lüscher gewesen, der sich mit einem Lächeln auf dem Gesicht über ihre Leiche gebeugt hätte, und nicht umgekehrt.
Bei der Entsorgung der Kleider war sie entsprechend vorsichtig gewesen. Sie hatte drei Tage auf eine günstige Gelegenheit gewartet. Dann war Laura über Nacht bei Nicole geblieben, und Markus hatte länger arbeiten müssen. Mit Einbruch der Dunkelheit hatte sie die Sachen aus ihrem Wagen geholt und sie in der lodernden Hitze des großen Kaminfeuers versenkt. Sie hatte die Flammen so lange züngeln lassen, bis selbst der kleinste Fetzen rückstandslos verbrannt war. Am nächsten Morgen hatte sie die gesammelte Asche wie üblich in den Komposter in einer Ecke ihres Gartens gestreut. Den Kofferraum des Wagens hatte sie noch am gleichen Tag gründlich gereinigt, auch wenn sie sicher war, dass ohnehin keine Spuren vorhanden waren. Der Zimmermannshammer, mit dem Herbert Lüscher sie angegriffen hatte, lag etwa vier Meter unter der Wasseroberfläche, auf dem schlammigen Grund des Baldeneysees.
Sie hatte alles erledigt. War sie zufrieden? Sabine konnte mit dem Wort in diesem Augenblick nichts verbinden. Seit dem Mord an Lüscher brach vielmehr immer wieder ein Gefühl der bodenlosen Schwere über sie herein. In diesen Momenten war sie wie gelähmt, fühlte physisch, wie sie von unsichtbarer Hand niedergedrückt wurde. Nur mit ungeheurer Anstrengung gelang es ihr dann, sich zuzusprechen, dass die Tat eine unumgängliche Notwendigkeit gewesen war. Dass sie um Lauras willen nicht anders hatte handeln können. Dass sie ihre Mission erfüllt hatte. Dass die Welt ohne ihren Peiniger von einst wieder ein Stückchen sicherer und lebenswerter geworden war. Schließlich war sie es, die gewonnen hatte. Sabine hatte Lüscher erbärmlich krepieren sehen. Sie selbst war am Leben. Sie hatte ihn besiegt. Ich bin nicht mehr das Opfer . Ich habe die Macht, zu rächen. Ich kann etwas tun, um die wehrlosen Opfer zu rächen. Etwas Erhabenes lag in dem Wissen, eine Rächerin im Stillen zu sein für ihre Misshandlungen, aber auch für das Unrecht, das Menschen wie Lüscher immer wieder an anderen Unschuldigen begingen.
An diesem Morgen im Wald verstand Sabine, dass sie die Momente, in denen sie sich mental von der Last ihrer Schuld zu befreien versuchte, als unerträglich und reizvoll zugleich empfand. Als liege ein Potenzial darin, als sei ihre Rolle noch nicht zu Ende gespielt.
Was ist nur mit mir los? Wie kann ich nur so denken? Sabine schüttelte sich und atmete tief durch. Sie stieß einen langen Pfiff durch die Zähne aus, und der Hund gehorchte sofort. Wenigstens das habe ich noch unter Kontrolle.
Donnerstag, 18. November, 14.45 Uhr
Günther Klein kämpfte mit der Tastatur, während er seinen Vermerk über den holprigen Start der Ermittlungen schrieb. Natürlich hatte er anfangs bei der Polizei über lange Jahre seine Anzeigen und Berichte auf der Schreibmaschine getippt. Auch nach Einzug der ersten Computer hatte er noch eine Weile an der alten Arbeitsweise festgehalten. Aber er war damals noch zu jung gewesen, um sich dem technischen Fortschritt auf Dauer zu verweigern, und so stellte er eines Morgens die Schreibmaschine in den Wandschrank seines Büros und verfasste zum ersten Mal in seinem Leben einen digitalen Text.
Klein hatte den bisherigen Tag vor allem mit Gesprächen verbracht, die unabwendbar waren. Am Morgen war er im Büro seines Chefs gewesen, das eine Etage höher lag. Helmut Boger war Leiter der Kriminalinspektion1 und somit Kleins unmittelbarer Vorgesetzter.
In dem Gespräch war es vor allem um die geplanten Schritte im aktuellen Fall gegangen. Klein genoss großes Vertrauen bei
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