Die Eisbärin (German Edition)
dorthin, wo das Holz raschelnd in das dichte Laub am Wegesrand gefallen war.
Es war der erste wolkenlose Tag seit langem. Die tiefstehende Vormittagssonne schien durch die bereits blätterlosen Kronen und zeichnete Zweige und Äste der Bäume als riesiges Schattenmuster auf den Boden des Schellenberger Waldes.
Das bunte Laub unter den Füßen fühlte sich an wie ein weicher Teppich. Der Herbst schimmerte golden, und auf den Gräsern und Blättern glitzerten unzählige winzige Wassertropfen im Sonnenlicht.
Sabine sog den erdigen Waldgeruch so tief in ihre Lungen, wie sie nur konnte. Sie liebte es, hier zu sein, liebte die Einsamkeit im Schutz der hohen Bäume. Während sich die Welt um sie herum rasend schnell veränderte, schien die Zeit in der Ursprünglichkeit des Waldes stillzustehen. Die Natur erfüllte sie mit der Ruhe, die sie brauchte, gab ihr die Kraft, die ihr der Alltag raubte.
Branca wühlte sich auf der Suche nach dem Stock mit ihrer Schnauze durch das dichte Laub. Sabine musste daran denken, dass die Hündin etwa eine Million Mal besser riechen konnte als sie selbst. Gerne hätte sie für einen Moment mit ihr getauscht, um die Explosion der Sinneseindrücke zu erleben, die sie vermutete.
Die Hündin fand das Holz, brachte es triumphierend zurück und legte es hechelnd vor Sabines Füße. Es war ganz offensichtlich, dass ihr Spieltrieb noch nicht befriedigt war. Sabine bückte sich und warf erneut, dieses Mal weiter in den Wald hinein. Der Stock prallte gegen einen Stamm und verursachte ein gedämpftes Echo. Irgendwo in der Ferne antwortete ein Buntspecht mit einem stakkatoartigen Hämmern. Branca schoss los.
Sabine brauchte einen Moment, bis sie die Hündin zwischen den hellen Blättern wiederentdeckte. Das blonde Fell erwies sich als eine gute Tarnung. In den vergangenen Wochen hatte es viele Situationen gegeben, in denen sie selbst gern unsichtbar gewesen wäre.
Die ersten Tage nach ihrem folgenschweren Besuch bei Herbert Lüscher waren die schlimmsten gewesen. Sie hatte sich gegenüber ihrem Mann noch reservierter und abweisender verhalten als in den Tagen zuvor. Zum einen hatte das rein praktische Gründe. Sie war gezwungen, ihr Hämatom zu verbergen, für das sie keine Erklärung parat hatte.
Zum anderen hatten sich ihre Gefühle in irritierender und tiefgreifender Weise verändert. Allein die Vorstellung, mit ihrem Mann körperlichen Kontakt oder gar eine intime Begegnung zu haben, war ihr zutiefst zuwider. Gleichzeitig verspürte sie eine große Sehnsucht danach, ihrer Tochter nah zu sein, und nutzte jede mögliche Gelegenheit, um Laura für sich zu haben. Natürlich waren Markus die ständigen Abweisungen nicht entgangen, und er hatte Sabine mehrfach zur Rede gestellt. Jedes Mal hatte sie Lauras traumatisches Erlebnis mit dem Exhibitionisten als Grund für ihr verändertes Verhalten angegeben. Doch je länger sie an dieser Erklärung festhielt, desto weniger schien Markus sich damit zufriedenzugeben. Sabine ärgerte sich über seine Hartnäckigkeit, der sie immer weniger entgegenzusetzen hatte, und begann, die Auseinandersetzungen zu fürchten, die an ihren Kräften zehrten. Trotzdem beherrschte sie sich jedes Mal so, dass der elterliche Streit nicht vor Laura ausgetragen werden musste. Der Schutz und die Sicherheit ihrer Tochter waren wichtiger als alles andere.
Sie wusste, dass Markus sie trotz der momentanen Schwierigkeiten bedingungslos liebte. Immer wieder stiegen Schuldgefühle in ihr hoch. Wie konnte sie ihn nur so hintergehen? Sie nahm sich vor, ihre eigenen Befindlichkeiten noch weiter in den Hintergrund zu schieben und seinem Drängen mehr nachzugeben. Wenn das alles irgendwann vorüber und überstanden war, so wünschte Sabine, würde sie ihre Gefühle neu sortieren und ihr Leben wieder aufnehmen können.
Doch tief in ihrem Innern stieg die Gewissheit auf, dass der Weg dahin noch weiter war, als sie gedacht hatte. Seit dem Tag, an dem Laura ins Visier des Bösen geraten war, geschah etwas mit ihr. Sie spürte es an jedem Tag, in jeder einzelnen Minute. Ihre Liebe zu Laura hatte sich verändert. Sie fühlte sich nicht mehr unbeschwert und warm an wie früher, sondern glich mehr und mehr einer Obsession. Ein lange bedecktes Geschwür war aufgebrochen und ließ etwas Unbekanntes in ihr heranwachsen. Etwas, dessen Ausmaße sie noch nicht abzuschätzen vermochte. Sie ahnte, dass es düstere, unerbittliche Kräfte waren, die an ihr zerrten und die sie zu manipulieren versuchten.
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