Die Eisbärin (German Edition)
seine alkoholgetrübten Wahrnehmungen nicht allzu viel geben, aber er ist sicher, dass Lüscher in regelmäßigen Abständen Besuch empfangen hat“, fuhr Lauterbach unbeirrt fort.
„Jetzt wird es ja doch noch interessant!“, rief Klein und schlug beide Handflächen geräuschvoll auf die Tischplatte.
„Promirov ist der Meinung, Lüscher habe eine Enkeltochter, die ihn zwei- bis dreimal im Monat besucht hat.“
„Was?“, fragte Klein verdutzt. Damit hatte nun wahrlich niemand gerechnet. Fragend blickte er zu Laschinsky, doch dieser schüttelte den Kopf.
„Unwahrscheinlich“, brummte er nur.
„Also was meint dieser Russe?“
„Nun ja, er gibt an, Stimmen im Flur gehört zu haben und das Klacken von Absätzen. Ab und zu ist er zur Tür geschlichen und hat durch den Spion geschaut. Er sagt, dass er dabei jedes Mal eine Frau gesehen hat.“
Günther Klein schöpfte Mut.
„Was wissen wir über diese Frau?“
„Ich fürchte, nicht viel“, dämpfte Lauterbach die Hoffnung im Handumdrehen. „Der Mann kann keine Beschreibung abgeben. Er hat sie immer nur von hinten gesehen. Sicher ist er sich nur, dass die Dame stets mit einem langen, dunklen Mantel bekleidet war.
„Es ist also eine reine Vermutung von ihm, dass es sich um die Enkeltochter handelt“, sagte Klein leicht gereizt.
„Richtig.“
„Und dass es sich um eine junge Frau handelt, kann er ebenso wenig wissen.“
„Auch das ist richtig“, gab Lauterbach zu. „Interessant ist aber, dass die Dame angeblich nie lange geblieben ist. Promirov spricht von höchstens einer Stunde.“
Klein stützte sein Kinn auf die Daumen, während er mit den Zeigefingern seine Nasenwurzel massierte.
„Wir müssen diese Frau ausfindig machen“, sagte er. „Das hat absolute Priorität. Ihr zwei kümmert euch weiter darum. Wenn ihr Hilfe braucht, bekommt ihr mehr Leute.“
Klein spürte, dass seine Mannschaft eine Pause vertragen konnte. Die warme Heizungsluft schien den Sauerstoff förmlich zu verschlingen. Doch er wollte keine weitere Zeit verlieren, zu viel davon hatte er heute bereits verschwendet.
„Was gibt es Neues bei euch?“, wandte er sich an Laschinsky und den schmächtigen Klee. Die beiden hatten den ganzen Vormittag damit verbracht, die Kisten mit Papieren und Dokumenten aus Lüschers Wohnung durchzusehen. Klein hatte große Hoffnungen an diese Auswertungen geknüpft, denn der Tote war immerhin ein Beamter gewesen. Er vermutete einen pedantischen Wesenszug des Opfers, auch wenn dessen Umfeld dem Klischee nicht zu entsprechen schien.
Laschinsky räusperte sich und ergriff das Wort. Herbert Lüscher war ein Einzelkind gewesen, das in Aachen geboren wurde und bis zum Beginn seines Ruhestands auch dort studiert, gewohnt und gearbeitet hatte. Erkundigungen bei den Aachener Behörden und Ämtern ergaben, dass er nie verheiratet gewesen oder Vater geworden war. Laschinsky referierte über Bankunterlagen, Rechnungen und Kaufquittungen aus dem Hausmüll. Doch es war nichts dabei, was auf ein schnelles Vorankommen der Ermittlungen hoffen ließ. Keinerlei persönliche Notizen, Aufzeichnungen oder Fotos, die auf Freundschaften oder andere Kontakte hätten hinweisen können.
„Tut mir leid, mehr ist diesen Kisten nicht zu entnehmen“, sagte Laschinsky und übergab das Wort an seinen Kollegen.
„Ich habe mich heute Nachmittag mit dem Filialleiter der Sparkasse getroffen“, berichtete Klee. „Er hatte nie persönlichen Kontakt mit unserem Toten, konnte aber herausfinden, wann Lüscher das letzte Mal in der Filiale Geld abgehoben hat und bei wem das war.“
„Ach ja?“
Klein fühlte sich plötzlich niedergeschlagen und müde. Er sehnte sich nach seinem Bett.
„Das Mädchen heißt Anna Schmitz und macht derzeit ihre Ausbildung bei der Sparkasse. Wir hatten Glück, dass sie heute da war. Sie konnte sich tatsächlich an Lüscher erinnern. Er sei ausgesprochen unfreundlich und gereizt gewesen. Offenbar hat er sie vor den anderen Kunden fürchterlich zur Sau gemacht, und das nur, weil sie ihm ein Beratungsgespräch vermitteln wollte.“
„Konnte sie einen Grund nennen für sein Verhalten?“, fragte Klein.
„Nein. Aber die anderen Angestellten berichten Ähnliches: Lüscher sei immer reserviert und wortkarg gewesen. Nie ein persönliches Wort oder eine freundliche Geste. Schon gar nicht einen Hinweis darauf, wofür er das Geld eigentlich brauchte.“
„Über wie viel Geld reden wir denn?“
„Es waren immer zwischen 400 und 600 Euro bei
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