Die Eisbärin (German Edition)
Hüften und zierlicher Brust. Klein wusste, dass sie einen Großteil ihrer knappen Freizeit dem Sport verschrieben hatte. In ihren drei Jahren als Bereitschaftspolizistin war sie eine Meisterin im Wing Tsun geworden, einer Sportart, aus deren Repertoire sich die Polizei ihrer Eingriffs- und Verteidigungstechniken bediente. Klein wusste auch um den Hang seiner Kollegin zu außergewöhnlichem Nervenkitzel. Im Frühjahr hatte sie ihm begeistert von einem Fallschirmsprung über dem nächtlichen Münsterland berichtet, im Jahr davor war es ein Bungee-Sprung von einer Brücke in Schottland gewesen. Jennifer Bergmann war eine Frau, wie sie sich viele Männer wünschten. Doch so angenehm ihre Erscheinung und Gesellschaft auch waren, Klein hatte seine Kollegin nie heimlich begehrt oder gar lüstern betrachtet. Er sah in ihr einen Zögling, für dessen Ausbildung und Werdegang er Verantwortung trug. Von Zeit zu Zeit hatte er das Gefühl, dass Jennifer Bergmann ihm sogar näherstand als Miriam, seine eigene Tochter. In diesen Momenten wusste er nicht, ob er sich darüber freuen oder ob er traurig sein sollte.
„Alles in Ordnung?“, hörte er sie schließlich fragen. Offenbar war ihr nicht entgangen, dass er mit seinen Gedanken woanders war.
„Ja, alles in Ordnung, ich habe nur … unwichtig.“ Er sah sie an: „Dir liegt doch was auf dem Herzen. Leg los.“
Bergmann nickte ihm dankbar zu und hob an: „Weißt du, ich habe nicht deine Erfahrung, habe längst nicht so viele Tote gesehen, so vielen Mördern gegenübergesessen wie du. Aber irgendetwas stimmt doch hier nicht.“
„Wie meinst du das?“, fragte Klein, doch im Grunde wusste er es bereits. Er fühlte genauso.
„Nehmen wir Lüscher selbst“, fuhr Bergmann fort. „Was ist das für ein Kerl? Ich meine, nach allem, was wir bislang wissen, hatte er 30 Jahre lang einen anstrengenden, aber gutbezahlten Job. Und als er dann sein Leben endlich genießen kann, hat er nichts Besseres zu tun, als ausgerechnet in das dunkelste Loch der ganzen Stadt zu ziehen. Nur um dort in völliger Isolation zum Alkoholiker zu werden.“
„Wir wissen nicht genau, wann er mit der Trinkerei angefangen hat“, erwiderte Klein. „Wir müssen seinen früheren Arzt ausfindig machen.“
„Meinst du, die Kollegen an der Schule hätten etwas gesagt, wenn Lüscher schon als aktiver Lehrer getrunken hätte?“
„Das weiß ich nicht. Ich habe zwar den Eindruck, dass Lüscher innerhalb des Kollegiums nicht sonderlich beliebt gewesen ist, aber das eigene Nest wird nur ungern beschmutzt.“
„Und über Tote redet man nicht schlecht.“
„Ja. Wir werden den ehemaligen Schulleiter auf dieses Thema ansprechen müssen. Es muss schließlich einen Grund geben, warum Lüscher bereits mit 55 Jahren pensioniert worden ist.“
„Ja, das müssen wir.“
Bergmann drehte sich nach hinten und kramte die Schachtel Marlboro Lights aus der Jackentasche.
„Stört’s dich?“, fragte sie.
Klein zuckte mit den Schultern. Bis vor zehn Jahren war er selbst starker Raucher gewesen. Dann hatte er eines Tages seine damals zwölfjährige Tochter dabei erwischt, wie sie heimlich mit einer Freundin auf der Kellertreppe rauchte. An diesem Tag hatte er sich geschworen, sämtliche Zigaretten für alle Zeiten aus seinem Hause zu verbannen, wobei er konsequenterweise seine eigenen mit einschloss.
„Nein“, sagte er.
Bergmann stand auf, lief zum Fenster und stellte es auf Kipp. Aus ihrer Hosentasche holte sie ein silbernes Sturmfeuerzeug, zündete die Zigarette an und setzte sich zurück an den Schreibtisch.
„Und was zum Teufel ist bloß in dieser Wohnung geschehen?“ Sie blies den Qualm aus ihren Lungen, und unter dem Lichtkegel ihrer Lampe formte sich eine bizarre Glocke aus waberndem, bläulichem Dunst.
„Wer zum Teufel geht hin und tötet einen alten Mann mit einem einzigen, gezielten und kräftigen Stoß ins Herz. Hast du so etwas schon einmal erlebt?“
Klein konnte sich an keinen vergleichbaren Fall erinnern. Selbst Klee hatte keine anderen Fälle mit ähnlicher Vorgehensweise nennen können. Die Recherchen in den internationalen Datenbanken waren ebenfalls negativ verlaufen.
„Nein“, besann er sich auf die Frage. „Einzelne Stiche findet man ja eher im Bereich des Halses, der Kehle. Oder an den Handgelenken, wenn es ein Selbstmörder ist. Stiche ins Herz sind typisch für Beziehungstaten, wenn der Täter das Opfer gekannt und abgrundtief gehasst hat. Dann allerdings haben wir in der Regel
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