Die Eisbärin (German Edition)
sagen, schloss Klein: „Gut. Fahrt nach Hause und schlaft euch aus. Wir sehen uns morgen um elf.“
Es war bereits 22.10 Uhr, als Klein das Licht löschte und als Letzter das Besprechungszimmer verließ. Sein Körper schrie nach Erholung, doch er wusste, dass dies nicht der Zeitpunkt war, um zu schlafen. Klaus hat völlig recht, dachte er auf dem Weg zu seinem Schreibtisch. Wir müssen einen Mörder fangen, und am Ende bin ich dafür verantwortlich, ob uns das gelingt oder nicht.
Er ging hinüber in sein Büro, sank schwer in den Drehstuhl und blickte in die Dunkelheit. Er genoss die vollkommene Stille des alten Gemäuers und liebte es, das riesige Gebäude beinah ganz für sich allein zu haben. Lediglich die Leitstelle und der nächtliche Bereitschaftsdienst der Kriminalpolizei waren in einem anderen Gebäudetrakt noch bei der Arbeit.
Klein sammelte seine Gedanken noch eine Weile, dann beugte er sich vor, knipste die Schreibtischlampe an und fuhr den Computer hoch. Er wollte gerade das Schreibprogramm öffnen, als ihn etwas innehalten ließ. Das Geräusch kam von draußen, aus Richtung des Flurs. Er verharrte regungslos und lauschte angestrengt in die Stille hinein.
„Hallo?“, rief er und stellte im selben Augenblick fest, dass seine Stimme nicht halb so fest klang, wie er wollte.
„Ist da wer?“, schob er vorsichtig hinterher und drehte den Schirm seiner Lampe zur Tür hin. Nichts zu sehen. Und keine Reaktion. Klein lenkte den Lichtkegel wieder auf den Tisch und wollte gerade an eine Täuschung seiner müden Sinne glauben, als er plötzlich jemanden atmen hörte. Ganz in seiner Nähe, im selben Raum. Blitzschnell griff seine rechte Hand an die Hüfte, doch sie fand nur das leere Gürtelholster. Panisch wurde ihm bewusst, dass er seine Waffe am Morgen im Panzerschrank hatte liegen lassen. Sein Hirn suchte fieberhaft nach einem Ausweg, als plötzlich ein leises Kichern zu ihm herüberwehte. Augenblicklich entspannte er sich, beugte sich vor und lenkte den Lichtstrahl auf die hübsche Gestalt, die lässig im Rahmen der Bürotür lehnte.
„Verdammt“, sagte er und wusste nicht recht, wie viel der Verärgerung in seiner Stimme gespielt war und wie viel nicht. „Ich bin ein alter Mann, schon vergessen?“
„Ich wollte noch mal nach dir sehen.“
„Na hör mal, ein Pflegefall bin ich noch nicht.“
„Aber gut ging es dir heute Abend auch nicht, oder?“
„Jedenfalls besser als nach deinem kleinen Auftritt eben. Himmel, ich hätte auf dich schießen können!“
„Ohne Waffe?“
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Sie hat es also bemerkt, stellte Klein etwas verlegen fest.
„Ich hätte mich auf dich stürzen und dich erschlagen können“, knurrte er mit tiefer Stimme und formte seine Hände zu klauenartigen Greifern.
„Mit deinem kaputten Knie?“
Das Lächeln auf Bergmanns Gesicht weitete sich nun zu einem schelmischen Grinsen.
Klein lehnte sich geschlagen zurück und schüttelte den Kopf. „Was machst du eigentlich hier? Warum bist du nicht zu Hause oder gehst in die Disco?“
Jennifer Bergmann betrat das Zimmer und setzte sich an ihren Schreibtisch. Auch sie schaltete die kleine Leseleuchte an. Der schwache Schein beider Lampen tauchte das große Büro in ein schummriges Licht, und die langen Schatten erzeugten eine gespenstische Gemütlichkeit.
„Ich hatte tatsächlich eine Verabredung“, sagte sie.
„Aber?“
„Ich habe abgesagt. Ich wollte mit dir noch mal über Lüscher reden.“
Klein beugte sich vor, drehte den Kopf auf die Seite und musterte seine Kollegin.
„Du warst dabei“, sagte er, ohne seinen Blick zu lösen. „Wir haben alle Fakten zusammengetragen. Alles, was es bisher gibt, wenigstens.“
„Das meine ich nicht. Wir hatten heute keine Zeit, über Gefühle zu reden.“
„Über Gefühle reden?“, wiederholte er erstaunt. „Ich schätze, du hättest deiner Verabredung nicht absagen sollen.“
Jennifer Bergmann lachte laut auf, und Günther Klein fiel auf, wie schön sie war. Der Zopf, den sie tagsüber stets trug, war gelöst, und ihr langes, blondes Haar fiel ihr vom Mittelscheitel aus in glatten Strähnen bis weit über die Schultern. Ihre grünen Augen verrieten einen wachen Geist, versprühten lebensbejahende Freude und Neugier. Die Jacke hatte sie über den Stuhl gehängt, und der enge, beigefarbene Wollpullover betonte ihre schlanke, sportliche Gestalt. Sie war keine aufdringliche Schönheit, sondern eher mädchenhaft geblieben mit schmalen
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