Die Eisbärin (German Edition)
berührten nun gerade noch ihre zierlichen Schultern, die von einer eleganten, eng geschnittenen Bluse bedeckt wurden. In Isabellas Gesicht hatte die Zeit ihre Spuren hinterlassen, doch noch immer konnte man sie als außerordentlich attraktiv bezeichnen. Der Ausdruck ihrer blassgrauen Augen war derselbe geblieben und zeugte von professioneller Entschlossenheit.
Markus löste sich von ihrem Anblick, notierte die Kontaktdaten und registrierte, dass Isabella noch immer ihren Mädchennamen trug. Plötzlich überkam ihn eine Nervosität, wie er sie selten erlebt hatte. Mit zittrigen Fingern wählte er ihre Telefonnummer auf seinem Handy. Es klingelte lange. Niemand meldete sich. Markus wollte gerade auflegen, als plötzlich ihre Stimme erklang.
„Hallo, Isabella. Ich bin’s, Markus. Markus Kleiber.“
Er ließ ihr keine Zeit für eine Reaktion, sondern fügte sofort an: „Ich würde mich gern mit dir treffen. Am besten so schnell wie möglich.“
Nach dem Telefonat fühlte er sich beschwingt und lebendig wie lange nicht mehr. Es war viel einfacher gewesen als erwartet. Am kommenden Montag würde er sie wiedersehen. Dafür musste er zwar einigen seiner Patienten absagen, aber das war es ihm wert. Er warf einen Blick auf die Uhr, schaltete den Rechner aus und verließ das Arbeitszimmer. Laura wartete bereits darauf, dass er sie abholte.
Samstag, 20. November, 18.00 Uhr
Günther Klein setzte rückwärts in die Parklücke und schaltete die Scheibenwischer aus. Die Hände im Schoß, die Augen geschlossen, blieb er noch eine Weile sitzen und lauschte Frank Sinatra im Duett mit seiner Tochter Nancy. Er dachte an seine eigene Tochter, Miriam. Im Geiste zählte er die Wochen, die seit ihrem letzten Gespräch verstrichen waren, und das Ergebnis stimmte ihn traurig.
Die Klänge des Liedes wurden leiser, und ehe der Moderator etwas sagen konnte, schaltete Klein das Radio aus, verließ den Wagen und ging hinüber zu seinem Haus. Der Ostwind hatte aufgefrischt und blies ihm den kalten Nieselregen mitten ins Gesicht. Klein warf einen flüchtigen Blick zum Himmel. Die Wolken waren zu einer konturlosen, schmutzig braunen Masse verschwommen, die unheilvoll über der Stadt hing.
Klein drehte den Schlüssel und schob die Haustür auf, die plötzlich auf einen Widerstand traf. Der Schwung reichte aus, um das Hindernis zu verschieben. Dann hallte ein dumpfer Knall durch den Eingangsbereich. Vorsichtig schob sich Klein an der halb geöffneten Haustür vorbei und spähte in den Flur. Sein Blick fiel auf eine umgestürzte Einkaufstasche, und er bemerkte die rote Lache, die sich rasch ausbreitete. Er erkannte die Tasche und wurde schlagartig von einer Nervosität befallen, die ihm ebenso vertraut wie ärgerlich war. Einen Augenblick später sah er sie die Kellertreppe heraufkommen. Ihr hübsches Gesicht löste sich aus dem Halbdunkel. Die großen blauen Augen erblickten erst ihn und dann den Wein, der sich inzwischen vollständig über die Fliesen ergossen hatte.
„Das wollte ich nicht, ich meine, ich habe Ihre Tasche nicht gesehen“, stammelte Klein anstelle einer Begrüßung.
„Es ist meine Schuld“, sagte Irina.
„Ich konnte sie nicht sehen“, wiederholte Klein. Er spürte ein Glühen auf seinen Wangen und fühlte sich wie ein Schuljunge, den die Lehrerin beim Schummeln erwischt.
„Ist schon gut“, beteuerte Irina und schenkte ihm ein verzeihendes Lächeln. „Ich hätte sie nicht dort stehenlassen dürfen.“
„Warten Sie“, sagte Klein und machte sich eilig auf den Weg in seine Wohnung im ersten Stock. Kurz später kehrte er mit Mülltüte, Kehrblech und einer Küchenrolle zurück.
Irina hatte bereits begonnen, die Scherben aufzusammeln, doch Klein bestand darauf, ihr diese Arbeit abzunehmen, und reichte ihr stattdessen die Papiertücher. Schweigend arbeiteten sie nebeneinander an der Beseitigung des Missgeschicks. Gelegentlich blickte Klein verstohlen zur Seite. Er registrierte ihre zierlichen Schuhe, die dunkle Seidenstrumpfhose über den schmalen Fesseln. Durch die gebückte Haltung war Irinas Kleid bis über die Knie gerutscht, und der Anblick irritierte und faszinierte ihn zugleich. Wenn sie sich bewegte, konnte er ihr Parfum riechen. Sein Gehirn vermochte die Bestandteile nicht herauszufiltern, aber er dachte an eine Mischung aus Frühlingsblumenduft und warmem Honig. Und eine Note schweren, französischen Rotweins.
Klein suchte fieberhaft nach einer Bemerkung, einer Frage, nach irgendetwas, das ein Gespräch
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