Die Eisbärin (German Edition)
verregnete Schicht. Müde streifen wir durch unser Gebiet, erzählen uns Witze, die wir beide schon kennen. Zäh tropft die Zeit, noch fünf Stunden bis zum Feierabend. Dann sehe ich die rote Lampe, ein Funkspruch geht ein. Hier Leitstelle Gruga, tönt es aus dem Lautsprecher. Schwerer Verkehrsunfall auf der Annastraße. Der Wagen hat ein Schaufenster durchbrochen. Starke Rauchentwicklung. Rettungswagen und Feuerwehr sind unterwegs. Ich erkenne die Stimme des Funkers, ein erfahrener, besonnener Mann. Er klingt angespannt. Besorgt. Ich krame meinen inneren Stadtplan hervor. Mit den Jahren hat er sich wie ein Foto in mein Gedächtnis gebrannt. Keine drei Kilometer, sage ich und schaue hinüber zu Achim. Sein Blick ist düster, sein Nicken knapp, dann tritt er aufs Gas. Ich habe Mühe, mich nach vorne zu beugen, um das Funkgerät zu bedienen. Ich will den Einsatz übernehmen, doch die Beschleunigung drückt meinen Oberkörper in den Sitz. Das Blaulicht auf dem Dach spiegelt sich in den Scheiben geparkter Autos, und die Sirene heult schrill durch die Nacht. Der Regen wird plötzlich stärker. Das Gummi der Wischblätter schafft es kaum, die heftig prasselnden Tropfen beiseitezuschieben. Das Fernlicht flackert auf, doch die Sicht reicht kaum für die nächsten 30 Meter. Wie in einem Tunnel fliegt alles als dunkler Schatten an uns vorbei. Im Tiefflug jagen wir durch die kalte Nacht. Scharfe Bremsung, wir schießen nach vorn. Die Gurtmechanik stöhnt, doch sie hält. Kurve nach rechts, dann geht das Tempo wieder hoch. Die Hauptstraße ist breit, ihr Zustand schlecht. Vollgas. Der Motor heult. Ich schiele nach links, die Nadel zeigt 110. Die Wischer kreischen, das Fahrwerk ächzt. 500 Meter, rufe ich. Die Straße biegt sich nach rechts, die Physik zieht uns nach links. Die Bremsen greifen, der Wagen wird leicht. Ich spüre den Grenzbereich. Dann sehe ich es, 200 Meter voraus, linke Seite. Wir sind die Ersten, niemand ist da. Wo ist der Anrufer, schießt es mir durch den Kopf. Für Antworten bleibt keine Zeit. Schlitternd kommen wir zum Stehen. Ich springe aus dem Wagen, Sekunden später bin ich nass bis auf die Haut. Das Wasser läuft in die Schuhe, die Haare kleben in meinem Gesicht. Ich versuche, die Situation zu erfassen. Metzgerei. Gerahmte Glasfassade, fast bis zur Erde. Mittig durchbrochen von einem dunklem Sportwagen. Aus dem Loch quillt dicker Rauch, die Sicht im Innern ist schlecht. Ich renne zum Fenster, rufe laut in das Dunkel. Die Antwort ist ein gequältes Stöhnen. Es gibt nichts zu überdenken, ich muss hinein. Das Heck des Toyotas versperrt mir den Weg. Hektisch suche ich nach einer Alternative. Da, eine Lücke, auf der linken Seite. Breit genug, aber niedrig. Ich befühle den Rand. Das Glas ist dick, aber von Rissen und Sprüngen überzogen. Ich schäle mich aus der Jacke, der Regen ist glitschig und klebrig zugleich. Ich lege sie auf den Boden, das Leder schützt mich vor den scharfkantigen Splittern. Ich atme tief ein und krieche hinein. Achim hält die Leuchte und brüllt in sein Funkgerät. Ich bin drin, vorsichtig richte ich mich auf. Es riecht nach Benzin, und der Qualm brennt in meinen Augen. Beeile dich, sagt die Stimme in meinem Kopf. Ich reiße die Fahrertür auf. Nur eine Person, ein junger Mann. Er lebt. Wimmernd und blutend liegt er in seinem Sitz. Ich beuge mich in den Wagen, löse den Gurt und drehe den Mann auf die Seite. Von hinten fasse ich seinen Arm. Rettungsgriff. Vorsichtig ziehe ich ihn aus dem zischenden Wrack und schleife ihn zurück zum Loch. Das Atmen fällt mir schwer. Achim erwartet uns. Er zieht, ich schiebe, mithelfen kann der Verletzte nicht. Sein rechter Fuß bleibt an der niedrigen Mauerkante hängen. Als er sich löst, schlägt er donnernd gegen die Reste der Scheibe. Ein starkes Zittern peitscht wellenartig über das rissige Glas. Dann verliert es sich in leisen Vibrationen. Die Scheibe hält. Meine Lungen brennen, mir ist schwindelig. Es wird Zeit. Ich lege mich auf den Bauch und krieche los. Der Kopf ist draußen. Gierig pumpe ich den Sauerstoff in meine Lungen. Achim greift meine Hände und zieht. Die Hüfte ist draußen. Plötzlich ist da ein Geräusch. Ein leises, unscheinbares Knirschen. Den neuen Riss in der Scheibe kann ich förmlich sehen. Der erstickte Aufschrei von Achim dringt an mein Ohr, und dann spüre ich es. Kalt und spitz bohrt sich das schwere Glas in mein Bein und zerschneidet das linke Knie. Panik überflutet mein Gehirn, Adrenalin den Rest meines
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