Die Eisbärin (German Edition)
viele Stiche, die unter Umständen sogar den ganzen Körper bedecken können. Der Täter handelt in einem Rauschzustand, einem Tötungswahn, ähnlich wie ein Amokläufer. Ist der erste Stein ins Rollen gekommen, kann die Lawine der Gewalt nichts mehr aufhalten.“
„Was ist nun aber mit diesem einzelnen Stich?“, hakte Bergmann nach.
„Ich weiß es nicht“, musste Klein zugeben. „Ich habe höchstens vage Vermutungen.“
„Die da wären?“
Klein musterte seine Kollegin und kam zu dem Schluss, dass sie es ernst meinte.
„Gut, aber nur unter Vorbehalt“, sagte er und nahm einen Schluck aus der Wasserflasche. „Ich glaube nicht recht an die Theorie mit dem unbekannten Fremden. Ich meine, ein Stich in ein schlagendes Herz verlangt auch dem hartgesottensten, gefühlskältesten Menschen ein gewisses Maß an Überwindung ab. Ein Fremder würde von hinten zustechen, in die Lunge. Er würde eine Pistole wählen oder zum Kissen greifen und den alten Mann einfach ersticken oder ihn meinetwegen erwürgen. Der Stich ins Herz deutet auf Gefühle hin. Auf gewaltige Gefühle.“
„Warum aber nur einer?“, blieb Bergmann hartnäckig. „Warum kein Exzess?“
„Es könnte eine Art …“, Klein verstummte und suchte einige Augenblicke nach den passenden Worten, „eine Art Schauspiel sein. Eine Inszenierung. Sperber sagt, der Mann sei innerlich verblutet. Das geht schnell, aber einige Sekunden wird es dauern.“
Bergmann zweifelte: „Einige Sekunden, ja. Aber wenn ich jemandem zuschauen möchte, wie er qualvoll verblutet, warum dann nicht eine Arm- oder Beinarterie öffnen, das würde die perverse Freude auf einige Minuten erhöhen.“
Sie erhielt keine Antwort und zog an ihrer Zigarette.
„Die Theorie mit dem Fremden überzeugt mich ebenso wenig wie dich“, sagte sie schließlich. „Immerhin hat Lüscher gelebt wie in einem Hochsicherheitstrakt. Wie um alles in der Welt hätte sich ein Fremder Zutritt verschaffen sollen?“
Klein seufzte, fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht und nickte. „Du denkst an die Frau?“
„Natürlich“, sagte Bergmann. „Meine Güte, Günther. Glaubst du, unser Mörder könnte weiblich sein?“
Tatsächlich war Klein dieser Gedanke auch schon gekommen, aber er hatte bisher keine Zeit gefunden, darüber nachzudenken.
„Nein“, sagte er dennoch, „das kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich bin überzeugt, dass diese Frau der Schlüssel ist. Jetzt deine eigene Theorie.“
„Meine Theorie?“ Bergmann war einen Moment lang verunsichert. Dann wurde ihr klar, was er meinte. „Du sprichst von diesem Fuchshaar?“
„Allerdings. Es wäre doch möglich, dass der Mörder sich mittels dieser Frau Zutritt verschafft hat.“
„Ja, zumindest sind es wohl in der Regel Frauen, die mit Fuchsfell herumlaufen.“
„Eines steht jedenfalls fest“, konstatierte Klein. „Wir müssen alles daransetzen, diese Frau ausfindig zu machen. Sie ist der erste Dominostein, der die anderen anstoßen muss.“
Bergmann öffnete eine Schublade ihres Schreibtisches, holte einen Aschenbecher hervor und drückte die Zigarette aus.
„Bliebe noch ein Detail“, sagte sie.
Klein bewunderte die Energie seiner Kollegin und empfand ein wenig Stolz.
„Das Leder“, sagte er.
„Richtig. Was hatte es an dem Bettgestell von Herbert Lüscher zu suchen?“
„Sag du es mir.“
„Ich hatte mal eine Freundin“, begann Bergmann nach einer kurzen Pause. „Der Vater war Schreiner. Zu ihrem 13. Geburtstag schenkte er ihr ein Schwebebett. Er hat eine Vorrichtung gebaut, die stabil genug war, um die Last zu tragen. Aufgehängt war es an vier Lederriemen, die mit dem Gestell verbunden waren. Es war wunderbar.“
„Und völlig geräuschlos. Es sei denn, es schlägt mit dem Kopfende gegen die Wand“, sagte Klein und war überrascht von seiner eigenen Schlagfertigkeit.
„Blödmann“, tat Bergmann beleidigt. „Sie war erst 13.“
„Im Ernst, ich denke, ein Hängebett können wir ausschließen. Der Raum war vollständig ausgekleidet mit diesen Dämmplatten. Aber ich werde Sperber beauftragen, in der Decke nach Haken oder alten Löchern zu suchen.“
„Gut“, zeigte sich Bergmann zufrieden, „was fällt dir sonst noch ein?“
„In Krankenhäusern oder psychiatrischen Kliniken werden Menschen gelegentlich ans Bett gefesselt. Zu ihrem eigenen oder anderer Leute Schutz. Zumindest wird es so gesagt.“
„Ja, und dann gibt es noch die Fälle, in denen das alles freiwillig
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