Die Eisbärin (German Edition)
Körpers. Ich versuche, das Bein zu bewegen. Es geht nicht, ich spüre es nicht mehr. Todesängste schaukeln sich auf und rauben mir den Verstand. Die Gedanken hängen in Fetzen. Blitzlichter ohne Zusammenhang. Und dann verändert sich alles. Plötzlich bin ich vollkommen ruhig. Ich schaue in Achims Gesicht. Er hockt da wie gelähmt. Hinter ihm erkenne ich den blutenden Mann, er wimmert noch immer. Aus der Ferne dringen die Sirenen zu uns herüber. Ich friere, höre ich mich sagen. Dann wird es still und schwarz.
Das erneute Sirenengeheul der abrückenden Krankenwagen holte Klein zurück in die Wirklichkeit. Die Schaumberge hatten sich inzwischen aufgelöst, das Wasser war kalt geworden. Missmutig beugte er sich vor, zog den Stöpsel und ließ gerade heißes Wasser nachlaufen, als sein Handy piepte. Es lag griffbereit neben ihm auf dem Klodeckel, und Klein erkannte die Nummer seiner Tochter. Es versetzte ihm einen Stich, aber er war jetzt nicht in der Verfassung, mit ihr zu sprechen. Die wenigen Gelegenheiten, die er mit ihr hatte, sollten nicht von trübseliger Stimmung und finsteren Gedanken überschattet werden. Er starrte auf die feuchten Fliesen vor ihm, in denen sich sein Gesicht spiegelte. Langsam lehnte er sich zurück, rutschte tiefer und ließ seinen Kopf unter die Wasseroberfläche sinken, wo er dem Brodeln des warmen Wasserstroms lauschte.
Sonntag, 21. November, 15.00 Uhr
Ihr Blick schweifte über die leicht gekräuselte Wasseroberfläche. Der Baldeneysee lag matt und grau zu ihrer Rechten und war an dieser Stelle so breit, dass Sabine das diesige Ufer auf der anderen Seite nur erahnen konnte.
Seit dem Morgen fiel der Regen in dünnen Fäden vom Himmel und überzog die hügelige Landschaft mit einem Schleier, der sämtliche Farben und Konturen herauszufiltern schien. Allein Branca versprühte Lebendigkeit in der trostlos wirkenden Umgebung. Mit hochgezogenen Lefzen preschte sie über den Uferweg und jagte einem Hasen hinterher, der zu dicht vor ihrer Nase über den Weg gehoppelt war. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete Sabine das Schauspiel. Sie wusste, dass es zwecklos war, ihren Hund in dieser Situation zurückzupfeifen. Zu stark war der Trieb des Tieres, seine Beute zu stellen, ihr die Fangzähne in den Nacken zu schlagen und so lange zu schütteln, bis sie schließlich tot war. Sabine sah, wie der Hase auf den Acker floh, und wusste im selben Moment, dass er gewonnen hatte. Branca folgte ihm tapfer, doch der erste Haken, den der Hase schlug, wurde ihr zum Verhängnis. Mit den Vorderläufen sank die Hündin in den aufgeweichten Untergrund, überschlug sich und landete hart auf der Seite. Verdutzt rappelte sie sich auf und hielt Ausschau nach der flinken Beute, die inzwischen sicher in ihrem Versteck saß. Branca schüttelte den Dreck aus dem Fell und lief hechelnd zurück auf den Weg. Ein quakendes Entenpaar hatte ihre Aufmerksamkeit erregt.
Das würde ich auch gern können, dachte Sabine. Niederlagen und Demütigungen einfach wegstecken, vergessen und den Blick nach vorne richten. So, als sei nichts gewesen. Früher hatte sie das versucht. Sie hatte die Demütigungen eingesteckt, um zu überleben. Doch anders als bei Branca war nichts dadurch gut geworden. Sabine spürte, wie die Wut wieder in ihr hochstieg. Sie würde nicht länger der Angst zum Opfer fallen. Sie war nicht mehr das wehrlose Kind von einst. Nein, sie war stark und wehrhaft, und alle würden das erfahren. Niemand würde sie mehr benutzen, und niemand würde ihrer Familie Schaden zufügen. Im Namen der zahllosen Opfer, die immer noch zu stiller Demütigung gezwungen wurden, musste sie handeln. Wer, wenn nicht sie, konnte für die Unschuldigen Partei ergreifen?
Langsam ging Sabines Atem wieder ruhiger, während sie ihr Herz noch laut pochen hörte. Die aufgescheuchten Enten zogen sich flügelschlagend und schnatternd aufs Wasser zurück, und Branca verlor das Interesse am Jagen. Geschlagen und lustlos kehrte die Hündin zurück an Sabines Seite und trottete neben ihr her. Wäre der Hund ein Mann gewesen, man hätte die beiden für ein zerstrittenes Pärchen halten können, das sich nichts mehr zu sagen hat.
Nach 20 Minuten gelangte Sabine an eine Einmündung. Sie verließ den Uferweg, kehrte dem See den Rücken und entfernte sich in südliche Richtung. Rechts von ihr erhoben sich die ersten Häuser aus dem Boden, während linker Hand dichter Mischwald begann.
Dann erreichte sie eine weitere Abzweigung. Der Weg, den sie
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