Die Eisbärin (German Edition)
hätte in Gang bringen können. Doch ihm fiel nichts ein, und die Gelegenheit verstrich.
„Ich glaube, das war alles“, sagte er schließlich, richtete sich auf und vermied es, Irina anzusehen. Er griff in die Hosentasche und holte sein Portemonnaie hervor.
„Was hat die Flasche gekostet?“, fragte er.
„Nein, das möchte ich nicht“, antwortete sie.
„Ich würde mich besser fühlen, wenn Sie das Geld …“
Er hielt inne, als sie energisch mit dem Kopf schüttelte.
„Ich muss mich beeilen, mein Mann … ich bin bereits spät dran mit dem Abendessen.“
Sie nahm die Tasche, lächelte verlegen und verschwand auf der Treppe.
Klein blickte ihr nach, entsorgte die Tüte mit den Scherben und humpelte frierend hinauf in seine Wohnung. Durch den überhasteten Aufstieg von eben hatte sein Knie wieder angefangen zu schmerzen.
Zehn Minuten später saß Klein mit einer dampfenden Tasse Tee am Küchentisch und blätterte lustlos durch die Tageszeitung. Er konnte sich nicht konzentrieren, denn seine Gedanken schweiften ständig ab zu der sonderbaren Begegnung. Der Ärger über sich selbst war noch immer nicht verraucht, und er fragte sich, was Irina über ihn dachte, ob sie überhaupt etwas über ihn dachte. Wenn ihre Bemerkung zutraf, stand sie jetzt in der Küche, unmittelbar über seiner eigenen und bereitete das Abendessen für ihren Mann. Klein rief sich die große, hagere Gestalt ins Gedächtnis, hatte aber Mühe, sich an das Gesicht zu erinnern. Er hatte seinen Nachbarn erst wenige Male gesehen, seit das Paar im vergangenen Sommer eingezogen war. Genau wie Irina sprach auch ihr Mann mit starkem Akzent, aber genau wie sie beherrschte er gepflegtes, korrektes Deutsch. Klein wusste im Grunde gar nichts über die beiden, hatte aber mitbekommen, dass der Mann oft für mehrere Tage verreiste.
Er scheuchte die Gedanken beiseite, nahm einen Schluck Tee, stand auf und lief ins Badezimmer. Er drückte den Stöpsel in den Abfluss der Badewanne, öffnete beide Hähne und ließ das Wasser so lange über seine Hand laufen, bis er mit der Temperatur zufrieden war. Er fand die Flasche mit dem Entspannungsbad und schüttete zwei volle Kappen der cremigen Flüssigkeit hinzu. Anschließend ging er hinüber ins Wohnzimmer, nahm das Telefon aus der Ladestation und wählte die Nummer seiner Tochter. Vergebens. Das Handy war ausgeschaltet. Einen Festnetzanschluss gab es nicht. Er verzichtete darauf, auf die Mailbox zu sprechen, und versuchte es stattdessen mit der Nummer, die an zweiter Stelle in seinem Telefon gespeichert war. Dieses Mal hatte er mehr Glück.
„Hey, Pa, was gibt’s?“
„Hallo, Tobias. Ich wollte mal hören, wie es dir geht.“
„Nichts Besonderes. Ein bisschen viel um die Ohren momentan.“
„Was macht die Schule? Nächstes Jahr ist es schon so weit, hm?“
„Ja, die ersten Vorklausuren laufen. Bis jetzt sieht es ganz gut aus.“
„Schön zu hören. Was macht deine Freundin? Lara, nicht?“
„Lana. Nein, es gab da ein paar Schwierigkeiten. Ist aber halb so wild.“
„Das tut mir leid. Wie geht’s deiner Mutter?“
„Sie ist ein paar Tage verreist, auf die Kanaren. Hey, Pa?“
„Ja?“
„Es ist gerade ein bisschen ungünstig. Meine Kumpel stehen jeden Augenblick vor der Tür. Können wir später telefonieren?“
„Ja, sicher.“
„Danke, Pa. Bis dann.“
„Bis dann“, erwiderte er, doch Tobias hatte bereits aufgelegt. Klein hielt den Hörer in der Hand und schloss die Augen.
Er fühlte sich plötzlich alt und ausgelaugt. Eine Weile blieb er einfach sitzen, bis ihn das Rauschen im Hintergrund an das warme Bad erinnerte, das auf ihn wartete. Schwerfällig erhob er sich, ging hinüber ins Badezimmer und spürte, wie sich die Aromadämpfe beruhigend über seine Schleimhäute legten. Kurz später senkte er seinen schweren Körper Stück für Stück hinab in die schaumigen Fluten.
Die Wärme hüllte ihn ein und drang in jede Pore. Klein blies ein Loch in den Schaumberg vor seinem Gesicht und lehnte den Kopf an die Wand. Seine Muskulatur entspannte sich, und mit der Entspannung kam die Müdigkeit. Seine Augenlider wurden schwerer, bis er schließlich nachgab und in einen schläfrigen Dämmerzustand glitt.
Sein Unterbewusstsein vernahm das Martinshorn eines Rettungswagens draußen auf der Straße. Die Mechanismen in seinem Kopf fingen an zu greifen und schickten ihn zurück in die Nacht des 12. November 1990. Die Nacht, die sein Leben für immer veränderte.
Es ist eine ruhige,
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