Die Eisbärin (German Edition)
ich habe niemanden gekannt, der derart unbeliebt gewesen ist.“
Klein suchte und fand den Blick des alten Mannes. Er hielt ihn fest, während er weitersprach: „Zur Motivlage können wir derzeit wenig sagen. Bei dem Toten handelt es sich um Herbert Lüscher, Lehrer für Erdkunde und Geschichte am öffentlichen Gymnasium zwischen 1973 und 1991. Wenn unsere Informationen richtig sind, waren Sie zeitgleich einige Jahre Direktor des benachbarten Internats. Erinnern Sie sich an Lüscher?“
Klein war es gelungen, den Blickkontakt aufrechtzuerhalten, und so war ihm der schwache Schatten auf Weinheimers Gesicht nicht entgangen. Klein war ihm in seiner beruflichen Laufbahn hundertfach begegnet. Dieses Flackern, das für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen war. Egal, wie groß oder klein das Vergehen, wie nervös oder abgebrüht ein Verdächtiger auch ist. In dem Moment, in dem jemand ins Mark getroffen wird, übernimmt der Körper für einen flüchtigen, verräterischen Moment die Kontrolle über den Geist. Für Klein waren solche Reaktionen immer von unschätzbarem Wert. Selbstverständlich hatten sie keinen gerichtlichen Beweiswert, aber oft waren sie deutliche Zeichen dafür, an welcher Stelle es sich lohnte, tiefer zu graben, um auf die Wahrheit zu stoßen.
Weinheimer schloss die Augen und führte seine Hände an die Nasenspitze. So saß er eine ganze Weile, in der niemand etwas sagte. Klein lehnte sich zurück und beobachtete. Stille auszuhalten war eine Fähigkeit, die jeder Polizist beherrschen musste.
„Herbert Lüscher“, wiederholte der alte Mann schließlich den Namen mit einer Stimme, die ein Stück ihrer anfänglichen Festigkeit eingebüßt hatte. „Ja, ich erinnere mich.“
Doch anstatt seine Erinnerungen preiszugeben, legte Weinheimer erneut eine Pause ein. Klein spürte Ärger in sich aufwallen, doch er kämpfte ihn nieder und wartete.
„Wissen Sie, Lüscher war ein exzellenter Lehrer“, begann der ehemalige Direktor endlich. „In all meinen Jahren habe ich keinen besseren Geschichtslehrer erlebt als ihn. Ein wandelndes Lexikon, randvoll gefüllt mit Fakten und Zusammenhängen. Ein Jammer, dass er dieses Talent jahrelang an die öffentliche Schule verschwendet hat.“
„Wie meinen Sie das?“
Klein hatte tatsächlich keinen Schimmer, was Weinheimer damit sagen wollte.
„Ich habe ihn damals ans Internat geholt.“
Klein richtete sich wieder auf und wechselte einen schnellen Blick mit Bergmann. Endlich gab es jemanden, der eine engere Bindung zu Lüscher gepflegt hatte, der mehr über ihn berichten konnte.
„Zunächst war sein Engagement bei uns aus der Not heraus geboren.“ Weinheimer hielt den Kopf gesenkt und sprach mit halb geschlossenen Augen. „Einer unserer Geschichtslehrer hatte einen Unfall und fiel für lange Zeit aus. Lüscher genoss, wie gesagt, einen ausgezeichneten Ruf. Ich bin auf ihn zugegangen und habe ihm ein Angebot gemacht. Am nächsten Tag kam er in mein Büro und erklärte sich einverstanden, an zwei Tagen in der Woche den Nachmittagsunterricht zu übernehmen. Sein Zuschuss wurde aus dem Stiftungsfonds gezahlt.“ Weinheimer blickte auf. „Ich habe keine Ahnung, ob er sich die Nebentätigkeit hat genehmigen lassen.“
„Keine Sorge“, sagte Klein ungeduldig, „das interessiert uns im Moment nicht. Erzählen Sie uns etwas über Lüscher, über seine Gewohnheiten, Freunde, Interessen. Alles, was von Belang sein könnte.“
Weinheimer nickte. „Sie sind mit den Gepflogenheiten am Internat vertraut?“
„Ja“, erwiderte Klein. „Man hat uns vor Ort das Wichtigste erzählt.“
„In Ordnung“, sagte der alte Mann, der wieder ein wenig gefestigter wirkte. „Es war in meinem vierten Jahr als Direktor, nach den großen Ferien 1987, als Lüscher zu uns kam. Die ersten Monate blieb es bei den zwei Nachmittagseinheiten, immer montags und donnerstags. Lüscher war ein leuchtendes Beispiel an Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Ich kann mich nicht erinnern, dass er sich je krankgemeldet hat.“
„Und wie ging es weiter?“, fragte Klein und schielte zu Bergmann hinüber, die einen Block auf die Lehne ihres Sessels gelegt hatte und sich Notizen machte.
„Im November desselben Jahres habe ich ihn gefragt, ob er sich vorstellen könne, sein Engagement auszuweiten. Ich hatte für den Freitag noch einen Erdkundekurs zu besetzen. Lüscher war sofort einverstanden.“
Weinheimer überlegte eine Weile, und Klein fragte sich, was den alten Mann bedrückte. Über
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