Die eisblaue Spur
alles
bestens. Nur sein Vater mache ihn wahnsinnig mit seinen endlosen
Fragen, was er nach dem Abitur vorhabe. Da er nach dem laufenden
Schuljahr noch zwei ganze Winter vor sich hätte, fände er
diese Frage total verfrüht. Mit achtzehn kam einem ein Jahr
noch wie eine Ewigkeit vor. Ansonsten lief alles prima, außer
dass der gewissenhafte Bruder der Meinung war, seine Schwester
Sóley würde nicht oft genug dazu angehalten, Geige zu
üben. Er sagte, die neue Frau seines Vaters verhindere
Sóleys Musikförderung, da sie es im Haus nicht mehr
aushalte, wenn Sóley übe. Dóra müsse sich
unbedingt darum kümmern, sobald sie wieder zu Hause wäre.
Anschließend kam Gylfi ohne Übergang auf die geplante
Spanienreise zu sprechen und beschrieb lang und breit, wie wichtig
es sei, frühzeitig zu buchen. Dóra blieb hart und
entgegnete, sie würden zu Hause in Ruhe darüber
sprechen.
Als Dóra aufgelegt hatte
und gerade ihr Handy wegstecken wollte, klingelte es erneut. Die
Nummer kam ihr bekannt vor. Es war Arnar Jóhannesson aus der
Entzugsklinik Vogur. Dóra stand auf und ging in die
hinterste Ecke, um ungestört mit ihm reden zu
können.
»Man hat mir ausgerichtet,
du hättest versucht, mich zu erreichen.« Arnars Stimme
klang deprimiert und schleppend, wie bei jemandem, der sich noch
nicht ganz von einem Schock erholt hat. »Ich weiß zwar
nicht, warum du mit mir sprechen willst, aber ...« Er
zögerte.
Dóra erklärte, worum
es ging. »Ich wollte mit dir sprechen, weil du mir vielleicht
bei ein paar ungeklärten Fragen behilflich sein kannst. Seit
die Polizei vor ein paar Tagen ins Camp gekommen ist, ist der Fall
zwar vorangeschritten, aber es gibt noch ein paar offene
Punkte.«
»Was sagt die Polizei
denn?«
»Nicht viel. Die
Ermittlungen laufen ja noch. Anscheinend hat sich einiges
geklärt, aber wir wissen nicht genau, was los ist.«
Merkwürdig, dass der Mann nicht als Erstes fragte, ob es etwas
Neues über seine verschollenen Kollegen gab.
»Ist jemand verhaftet
worden?« Arnars Stimme klang immer noch schleppend, aber auch
ein wenig ängstlich.
»Ja, sieht so aus. Einer
aus dem Dorf. Naruana. Ich glaube, du kennst ihn. Er scheint
zumindest an der Sache beteiligt gewesen zu sein.«
»Der hat niemandem was
getan.« Arnar zögerte. »Das ist der Polizei doch
wohl klar, oder?« Seine Stimme klang jetzt kindlich, fast
naiv und erinnerte Dóra an ihre Tochter Sóley, wenn
die ihre Mutter nach einer offensichtlichen Tatsache fragte, in der
Hoffnung, es könnte alles ganz anders sein. Mama, die Leute in
dem abgestürzten Flugzeug sind doch alle gesund,
oder?
»Entschuldige bitte, aber
ich muss dich fragen, wie gut du über die Ereignisse
informiert bist. Du sagst, er hätte niemandem was getan,
fragst aber nicht, ob überhaupt jemand verletzt
wurde.«
»Ich weiß ein paar
Dinge«, antwortete Arnar, scheinbar nicht verärgert
über Dóras Frage. »Ich habe Naruana gestern
angerufen. Er hat mir erzählt, dass Polizisten im Camp sind
und dass sie bei ihm zu Hause waren und ihm und seiner
Lebensgefährtin Fragen gestellt haben. Er hat mir
ausführlich davon erzählt.«
»Du weißt also, dass
die Leichen von Oddný Hildur, Bjarki und Halldór
gefunden wurden? Und dass Oddný Hildur ermordet
wurde?«
Arnar schwieg einen Moment.
»Ich wusste nicht, dass Oddný Hildur gefunden wurde.
Naruana hat mir nur erzählt, dass die Bohrmänner tot
sind.« Arnar atmete heftig.
»Wann hast du gestern mit
ihm gesprochen?« Dóra vermutete, dass Oddný
Hildurs Leiche zu dem Zeitpunkt noch nicht entdeckt worden war.
Naruana hätte keinen Grund gehabt, ihm das zu
verschweigen.
»Nach dem Abendessen, um
halb neun oder zehn.« Dóra überschlug den
Zeitunterschied zwischen den beiden Ländern. Es stimmte
– Oddný Hildurs Leiche war erst eine Stunde
später entdeckt worden. Die Polizei war anschließend
noch einmal losgefahren, um Naruana zu verhören, und hatte ihn
spät in der Nacht in Handschellen ins Camp
gebracht.
»Wurde Naruana wegen des
Mordes an Oddný Hildur verhaftet? Das ist Unsinn, er hat
niemanden getötet. Warum zum Teufel sollte er das tun?«,
sagte Arnar erregt.
»Darüber weiß
ich leider nichts.« Dóra bemühte sich, das
Gespräch unter Kontrolle zu halten. »Da ist noch was. Im
Kühlraum des Camps wurde eine Leiche gefunden, und in den
Büros Knochen, die offenbar von Usinna stammen, Naruanas
Schwester. Vielleicht hängt seine Verhaftung damit zusammen.
Die Leiche war allerdings schon sehr alt. Soweit ich
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