Die eisblaue Spur
Ermittlungsleiter
hielt Naruanas Schultern umfasst und führte ihn zum
Hubschrauber, dicht gefolgt von seinem Kollegen. Die beiden Piloten
eilten ihnen nach. Im Cockpit setzten die Piloten ihre
Kopfhörer auf und kontrollierten die Messgeräte,
während die Polizisten noch damit beschäftigt waren, den
Gefangenen in den Hubschrauber zu verfrachten. Schweigend
beobachtete die Gruppe den verzweifelten jungen Mann, seine
hoffnungslosen Versuche, sich loszumachen, seine wütenden,
blutunterlaufenen Augen und sein aufgedunsenes Gesicht,
während er um sich schlug. Dann sackte er plötzlich in
sich zusammen und gab jeglichen Widerstand auf. Die Polizisten
reagierten misstrauisch auf diesen plötzlichen Sinneswandel
und wechselten Blicke, während sie Naruana
anschnallten.
Dóra griff nach
Friðrikkas behandschuhter Hand. Die Geologin starrte auf den
Hinterkopf des Mannes, der wahrscheinlich für den Tod ihrer
Freundin verantwortlich war. Dóra beugte sich zu ihr und
flüsterte ihr ins Ohr: »Denk nicht drüber nach.
Bald bist du zu Hause und kannst deine Katze in den Arm
nehmen.« Friðrikka nickte energisch. Dóra
ließ ihre Hand wieder los und hoffte, dass sie ihr Ziel ohne
weitere Gefühlsausbrüche erreichen
würden.
Die Rotorblätter wurden in
Gang gesetzt, und kurz darauf konnte man kein Wort mehr verstehen.
Dóra beobachtete Naruana und blickte immer wieder aus dem
Fenster auf die weiße, raue Landschaft. Naruana drehte ein
paarmal den Kopf und schaute hinaus. Was ihm wohl durch den Kopf
ging? Vielleicht wusste er, dass er seine Heimat lange nicht mehr
sehen würde, und wollte sich einprägen, wie die Felsen
aus der Schneedecke ragten und das Licht der niedrigstehenden Sonne
von der endlosen Gletscherfläche reflektiert wurde.
Als der Hubschrauber in Kulusuk
landete, waren Dóra und die anderen enttäuscht, dass
keine isländische Maschine auf der Landebahn auf sie wartete.
Sie würden im Flughafen oder im Hotel warten müssen.
Niedergeschlagen stiegen sie aus dem Hubschrauber und blieben kurz
stehen, als die Polizei Naruana von Bord zerrte. Dann folgten sie
den drei Männern zum Flughafengebäude. Der
Ermittlungsleiter führte den jungen Mann, der offenbar
jegliche Fluchtversuche aufgegeben hatte. Widerstandslos und mit
schleppenden Schritten folgte er den Polizisten. In der Tür
zum Flughafengebäude drehte er sich plötzlich um, und
sein Blick fiel auf die Gruppe. Friðrikka bremste so abrupt ab,
dass Bella gegen sie stieß.
»Ich habe niemanden
umgebracht!« Man musste nicht viel Dänisch können,
um Naruanas Worte zu verstehen. »Ich habe niemanden
umgebracht«, wiederholte er. Dann wurde er brutal durch die
Tür gezerrt.
»Was soll das denn?«
Eyjólfur verzog das Gesicht. »Glaubt der etwa, wir
hätten Mitleid mit ihm?«
»Ich muss zugeben, dass
ich das habe. Das ist eine Tragödie, von welcher Seite man den
Fall auch betrachtet. Er hat bestimmt geglaubt, er würde es
für diese Geister tun, vor denen alle solche Angst
haben.« Dóra betrat das Gebäude, ohne eine
Reaktion von Eyjólfur oder Friðrikka abzuwarten. Der
Ermittlungsleiter kam ihr entgegen und sagte, sie sollten sich
einen Moment setzen, während er ihre weitere Heimreise
abklärte. Sie okkupierten die Plastikstühle, die an der
Wand des kleinen Warteraums befestigt waren, und die Polizei
brachte Naruana, der mit versteinerter Miene vor sich hin starrte,
fort.
»Das ist echt der
ätzendste Duty-free, den ich je gesehen habe.« Bella
zeigte in eine Ecke des Raums, wo Alkoholika, die man an einer Hand
abzählen konnte, sowie vier verschiedene Zigarettensorten in
einem Regal aufgereiht waren. »Und ich hab den Duty-free in
Reykjavík immer für einen Witz gehalten.« Ihre
Bemerkung lockerte die bedrückte Stimmung ein
wenig.
»Zeit für ein
Bier!« Alvar stand auf und ging zum Kiosk, wo amerikanische
Schokolade und grönländisches Kunsthandwerk verkauft
wurden. Er bestellte bei der jungen, freundlichen
Grönländerin ein Bier und schaute erwartungsvoll in die
Runde, in der Hoffnung, die anderen würden sich ihm
anschließen. Keine Reaktion. Enttäuscht bezahlte er,
ging mit einer grünen Tuborg-Dose zurück zu seinem Platz
und trank einen Schluck. Dóra nahm an, dass er schon bald
ein zweites Mal zum Kiosk gehen würde, und ihre Vermutung
bestätigte sich. Sie hatte keine Lust, diesem Trampel beim
Saufen zuzusehen, holte ihr Handy heraus und rief ihren Sohn an.
Der verkündete mit fröhlicher Stimme, zu Hause sei
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