Die Eiserne See - Brook, M: Eiserne See
»Erzähl’s mir.«
»Vor dreißig Jahren hat der darga der Horde einen Staatsempfang abgehalten. Natürlich waren alle Adligen aufgefordert zu erscheinen. Keiner von ihnen wusste, dass die Horde für diesen Abend eine Orgie geplant hatte.«
Alle Bugger waren davon betroffen. Doch nicht die Horde.
»Ihre Mutter hat es mit einem von ihnen getrieben?«
»Oder mehreren. Wer weiß das schon? Doch die Gräfin erinnerte sich nicht an das, was passiert war. Bis man ihr das Baby zeigte.« Scarsdale verzog den Mund. »Lady Rockingham hat einen Blick auf ihre Tochter geworfen – und sich selbst die Augen ausgestochen.«
3
Mina war schon zu oft beleidigt worden, um sich damit aufzuhalten – und sogar der Mistkerl von Herzog war vergessen, wenn sie den Brustkorb eines Menschen auf dem Untersuchungstisch in dem kleinen Labor im dritten Stock des Polizeihauptquartiers in Whitehall öffnete. Sie stocherte in den weichen, kalten Innereien herum, wo die verbliebenen Eiskristalle in den Vergrößerungsgläsern ihrer Brille deutlich zu erkennen waren.
Jeden Winter wurden in London Hunderte von Menschen, die nicht das Geld oder das Glück hatten, eine Unterkunft zu finden, erfroren in den Straßen gefunden. Doch hatte gerade erst der Herbst in England begonnen, und die Nächte waren zu warm, um einen Bugger zu töten, geschweige denn, ihn zu gefrieren. Wenn sie nicht gerade herausfand, dass der Mann auf einer Expedition hoch oben im Norden gewesen war, konnte Mina davon ausgehen, dass er nicht erfroren war.
Newberry, der auf der anderen Seite des Tisches stand, hielt sekundenlang den Atem an – was Mina verriet, dass er sich eine Bemerkung verkniff, um ihre Konzentration nicht zu stören. Sie hoffte, dass er eines Tages begriff, dass eine Frau gleichzeitig eine Obduktion vornehmen und ein Gespräch führen konnte.
Ohne aufzuschauen, fragte sie: »Was ist, Konstabler?«
Er räusperte sich. »Verzeihung, Sir, ich habe mich gefragt, ob Sie bestimmen können, wie lange er gefroren war.«
Ah, gut . Endlich fragte er. Von Beginn an hatte Newberry es nicht gemocht, an diesen Untersuchungen von Toten teilzunehmen. Mina hatte ihn für zimperlich gehalten, bis ihr klar geworden war, dass fast alle Bounder – zusammen mit vielen anderen aus der Neuen Welt – von der Leichenschau angewidert waren und behaupteten, dass Autopsien ein Zeichen der Nichtachtung vor dem Tod waren. Nach Minas Meinung hatte es nichts mit Nichtachtung zu tun, wenn sie jedes Detail untersuchte, um den Mörder dieses Mannes zu finden.
Die erste Zeit, nachdem er ihr zugeteilt worden war, hatte sie wegen seines Widerwillens schlecht von Newsberry gedacht – bis sie festgestellt hatte, dass seine Entschlossenheit, einen Mordfall zu lösen, ihrer in nichts nachstand. Jetzt nahm sie an, dass ihre Erziehung ihr einen Vorteil gegenüber dem Konstabler verschafft hatte. Ihr Vater war aus der Not heraus sowohl Mediziner als auch Chirurg geworden, und weil er sich keinen Assistenten leisten konnte, hatte Mina diese Funktion häufig übernommen. Und obwohl das Operieren an einem Lebenden einen großen Unterschied zur Autopsie einer Leiche darstellte, waren die Deduktionsmethoden ganz ähnlich. Ihr Vater betrachtete die körperlichen Symptome, um die Ursache einer Krankheit herauszufinden, und so schien es Mina nur natürlich, Spuren an einer Leiche zu untersuchen, um die Todesursache festzustellen.
Sie hatte gehofft, dass es irgendwann für Newberry normal sein würde, ebenfalls so zu denken – und hoffte nun, dass seine Frage ein Zeichen dafür war, dass er den Wert der Untersuchungen an Toten zu schätzen begann, auch wenn seine Abneigung noch nicht gänzlich verschwunden war.
»Ich weiß nicht genau, wie lange er gefroren war«, sagte sie zu ihm, »doch sein Verwesungszustand verrät, dass es nicht sofort nach seinem Tod geschehen ist.«
»Es war also ein nachträglicher Einfall, ihn einzufrieren?
»Scheint so. Oder sie hatten gar nicht vor, ihn zu töten, und es hat gedauert, das Eis zu beschaffen.« War die Idee, ihn auf die Treppe des Eisernen Herzogs zu legen, ebenfalls eine nachträgliche Idee?
»Wozu?«
»Wegen des Geruchs vielleicht.« Mina glitt mit der Hand unter die rechte Lunge des Mannes. Ihre Finger schmerzten von der eisigen Kälte, doch sie hielt das Skalpell ruhig. »Wenn die Mörder auf eine Gelegenheit warten mussten, um den Leichnam abzuwerfen, mussten sie ihn so lange verstecken.«
»Und wenn die Wartezeit zu lange gewesen wäre, hätte
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