Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
separate Firma, damit die Schulden nicht in den Bilanzen auftauchen. Das machen die westlichen Firmen genauso, nicht allein Narodneft.« Es stimmte, ein solcher Schachzug war ein normales Buchführungsmanöver. Allerdings verteidigte ich den Kosaken vielleicht auch bloß, weil Steve mich wegen Mascha auf den Arm genommen hatte.
»Aber Narodneft ist keine westliche Firma, Nick. Hör zu«, antwortete er und nahm noch einen Schluck, »du musst verstehen, dass die Sowjetunion das Gegenteil dessen bewirkte, was man sich einst erhofft hatte. Statt dass sich alle gegenseitig liebten, interessierte man sich am Ende einen Dreck füreinander. Nicht für die Öffentlichkeit, nicht für die Aktienbesitzer, nicht einmal für dich.«
Ich wusste, wohin das führte: Nicht der Kommunismus hatte Russland ruiniert, eher war es umgekehrt, und drei Weingläser später würden wir beim Erstarken des KGB -Staates sein, dem Erbe von Iwan dem Schrecklichen und den Vorzügen, die man den Frauen von Sankt Petersburg zu Recht nachsagte. Ein Blick in seine toten, fleckigen Augen verriet mir, dass Steve eifersüchtig war auf Mascha und mich, überhaupt auf jeden, der Hoffnung und Ehrgeiz genug besaß, glücklich sein zu wollen. Sein mäandernder Vortrag über russische Geschichte streifte gerade die Langzeitwirkungen des mongolischen Jochs, als ich ihn unterbrach.
»Ich fühle mich beschissen«, log ich und schob den Teller von mir. »Großes Gelage mit Mascha letzte Nacht. Ich glaube, ich muss los. Tut mir leid, Steve. Wir holen den Abend bald mal nach, okay?«
»Wir fühlen uns doch alle beschissen«, sagte Steve, sah zum Kellner, zog eine Augenbraue hoch und tippte ans Glas. »Liegt an diesem verfluchten Russland. An der Sauferei. Der Umweltverschmutzung. Diesem Drecksfraß. Den verdammten Flugzeugen. Und an diese Scheiße, die bei Regen vom Himmel fällt, will man nicht mal denken. Russland ist wie Polonium. Es greift sämtliche Organe auf einmal an.«
»Woran arbeitest du im Moment?«, fragte ich, als ich mir den Schal umband.
»Energiewirtschaft. Große Sache«, sagte er. »Viel größer als dein kleiner Ölterminal.«
»Und der Schwerpunkt diesmal? Geschäft oder Politik?«
»In Russland«, antwortete Steve, »gibt es keine Geschichten über Geschäfte. Und es gibt auch keine Geschichten über Politik. Auch keine Liebesgeschichten. Es gibt nur Kriminalgeschichten.«
SECHS
I n jedem russischen Winter gibt es Tage, da fürchte ich, es nicht zu schaffen. Tage, an denen ich am liebsten sofort zum Flughafen führe, wüsste ich nicht, wie grauenhaft der Verkehr ist. Gehen wurde zum Hindernislauf, bei dem man Schneeberge umrunden und auf kaum passierbaren Bürgersteigen enge Gänge bewältigen musste, in denen entgegenkommende Fußgänger jedes Durchkommen streitig machten. Du weißt doch, wie es in London ist, wenn man auf dem Gehweg mit jemandem zusammenstößt und versucht, um ihn herumzulaufen, nur um festzustellen, dass dein Gegenüber in dieselbe Richtung ausgewichen ist und man sich immer noch einander gegenübersteht – am Ende aber arrangiert man sich, lächelt angesichts dieser zufallsbedingten Intimität, des harmlosen Zwischenfalls und geht seiner Wege. In Moskau läuft das nicht so ab. Etwa einmal im Monat vergesse ich, die Zehen in den pelzgefütterten Stiefeln zu krümmen, die Füße fliegen aufwärts, der Hintern stürzt abwärts, und ich durchlebe eine lange, bange Sekunde strampelnden Entsetzens, während ich darauf warte, gleich aufs Eis zu krachen.
Und dann sind da die Orangemänner. Nach dem ersten richtigen Schneefall drückt jedes Jahr irgendwer im Stadtratsbüro einen Knopf, und eine Armee von Männern in orangefarbenen Overalls, dienstbare Geister der neuen Zeit aus Tadschikistan, Usbekistan und Wasweißichstan, tauchen wie friedfertig einfallende Aliens aus dem Erdboden oder von jenseits der Umgehungsstraße auf, fahren in prähistorischen Lastern herum, schaufeln Schnee zu Bergen auf und beseitigen widerspenstige Eisflächen mit Chemikalien, die anderswo zu Massenvernichtungswaffen zählen. In der Straße, in der ich wohne, türmen sie den Schnee auf eine Seite und begraben alle Autos, die unvorsichtigerweise dort geparkt wurden, wozu in jenem Winter auch der vor sich hin rostende Schiguli gehörte. Und jede Nacht, etwa um vier Uhr morgens, kommen die Orangemänner mit ihren Schaufeln, um das Eis vom Bürgersteig zu hacken und einen Lärm zu veranstalten, bei dem nur Tote weiterschlafen können – ein
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