Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
in zwei Minuten«, sagte sie auf Russisch. »Am Notausgang, gleich neben dem Tresen.«
Auf der Straße war es mörderisch kalt. Katja schlang die Arme um sich, als sie in ihrem Kellnerinnenkostüm und einem geborgten Mantel nach draußen kam.
»Kolja«, begann sie direkt, wieder auf Englisch und etwas gefasster, »sag Mascha nicht, du hast mich gesehen. Bitte, Kolja. Bitte. Ich brauch mehr Geld fürs Studium, aber Mascha darf nichts wissen von diesem Job. Sonst ist sie wütend, dass ich nicht ganze Zeit studiere.«
Sie legte ihre in den Mantelärmel hochgezogene Hand kurz auf meine Hüfte und sah mich an, ohne zu lächeln. Noch eine Minute, und uns würden die Extremitäten abfrieren.
»Okay«, sagte ich, weil sie mir leidtat, offenbar genau das Gefühl, das sie in mir wecken wollte: Ich bemitleidete sie, weil sie diesen geheimen Extrajob zusätzlich zu ihrem Studium machen musste, bemitleidete sie, weil sie im Leben einen kürzeren Strohhalm als ich gezogen hatte. »Ich verspreche es. Bis heute Abend.«
Wir gingen wieder hinein.
Später, als unser Taxi durch den Verkehr zurück zum Paweletskaja-Turm kroch, kam mir halb betrunken eine jener Einsichten, die man in dem Moment für eine tiefschürfende Erkenntnis hält. Sie sind wie kleine Kinder, dachte ich, diese Russen mit ihren schwarzgetönten Fensterscheiben, ihren Uzis. All diese pubertären Gewaltandrohungen, ob vom Leibwächter, vom Kosaken oder dem säbelrasselnden Präsidenten. Trotz aller Weltgewandtheit, all ihres Kummers, dachte ich damals, sind die Russen wie kleine Kinder.
*
»Wie schade«, scherzte Tatjana Wladimirowna, als wir alle wieder in ihrem überheizten Wohnzimmer saßen, »so ein Winter und kein Krieg.«
Es war gegen neun Uhr am Abend desselben Tages, Silvester. Draußen, auf dem Bulwar und rund um den Teich lärmten Jugendliche und bewarfen sich mit Knallfröschen. Katja hatte ihr Kellnerinnenkostüm abgelegt und trug, wie Mascha, ein Kleid, das mir verriet, wir würden hinterher noch irgendwo hingehen. Mascha hatte sich das Haar auf eine Weise frisiert, die mir neu war, straff zurückgezogen zu einem Pferdeschwanz, den sie zu einer Schnecke aufgerollt trug, was ihre grünen Augen und den schmalen Mund betonte. Bei der Begrüßung küsste sie mich aufs Ohrläppchen. Tatjana Wladimirowna hatte sich mit ihrem Bufett wieder selbst übertroffen. Als ich ihr meine Mitbringsel aus London schenkte – Scottish Shortbread, englische Schokolade und Earl Grey Tee in einer mit einem Doppeldeckerbus bemalten Dose –, dachte ich einen Moment lang, sie würde in Tränen ausbrechen.
Sie stellte die Teedose auf das Regal neben die Schwarzweißfotografien von sich und Pjotr Arkadjewitsch. Nach dem Mittagessen im usbekischen Restaurant war ich inzwischen gerade wieder nüchtern genug für die abendlichen Trinksprüche. Wir tranken auf das neue Jahr, auf die Liebe und auf die anglorussische Freundschaft. Als wir zum Anstoßen die Gläser hoben, schob sich Katjas Bluse hoch, und mir fiel auf, dass sie ein Bauchnabelpiercing trug.
Wir sprachen über die neue Wohnung.
Tatjana Wladimirowna war aufgeregt, aber auch nervös. Wo sollte sie ihre Lebensmittel einkaufen? Was, wenn das Haus in Butowo nie fertig wurde? Es stimmte, sie wollte heraus aus dem Stadtzentrum, sie war zu alt, sie war müde, aber sie hatte hier doch so lang gewohnt, was anderes kannte sie gar nicht.
Mascha sagte, Stepan Mikhailowitsch sei davon überzeugt, dass das Haus bis April fertig würde. Um ganz sicherzugehen, sagte sie, könnte man aber auch bis Ende Mai oder Anfang Juni warten, ehe man den Vertrag unterschreibe. Tatjana Wladimirowna wäre dann immer noch rechtzeitig zum Sommer dort.
Als Nächstes erklärte sie, dass sich Tatjana Wladimirowna und Stepan Mikhailowitsch vor Vertragsabschluss diverse Dokumente besorgen mussten. Sie brauchten einen Eigentumsnachweis für beide Wohnungen und einen Nachweis darüber, dass die Privatisierung von Tatjana Wladimirownas Wohnung rechtens gewesen sei. Außerdem werde ein Zertifikat verlangt, das bestätigte, dass ihr Gebäude nicht zum Abriss in einer der für den Moskauer Bürgermeister so typischen, architektonischen Kahlschlagsanierungen geplant sei: Er ging nämlich gern hin und weihte ein Gebäude in Bausch und Bogen dem Untergang, nur um dann seinem Bruder einen Vertrag für einen Neubau an derselben Stelle zuzuschustern. Dann brauchten sie noch ein Dokument, das bestätigte, dass niemand außer Tatjana Wladimirowna für diese
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