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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.D. Miller
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mit meinen Eltern eine große Rolle spielte. Zum einen, denke ich, wollte ich mit ihr angeben, wollte meiner Mutter beweisen, wie perfekt mein russisches Leben auch ohne sie oder sonst irgendwen war. Zum anderen versuchte ich sicher, sie zu beruhigen, indem ich Mascha als Zeugin für meine Zufriedenheit anführte und damit für Mums moderaten Erfolg als Mutter. Vielleicht aber rechnete ich auch damit, dass Mascha etwas Ungebührliches trug, sagte oder trank und so für mich das Werk der Wut und Rebellion verrichtete, zu dem es mir an Mut fehlte. Möglicherweise versuchte ich ja sogar, meine Mum in das Verhängnis einzubeziehen, von dem ich dunkel ahnte, dass es auf mich zukam. Und ich glaube, Mascha wollte ich sagen: Schau, keine Geheimnisse, hierher stamme ich, gesell dich zu uns; aber auch: Keine Sorge, so bin ich nicht mehr, das habe ich hinter mir gelassen, sieh, wie weit ich es geschafft habe.
    »Nur für eine Stunde, Mascha«, sagte ich. »Bitte. Mehr nicht.«
    »Okay, Kolja«, erwiderte sie, »ich komme mit zu deiner Mutter.«
    »Danke. Du hast bei mir was gut.«
    »Okay.«
    *
    Ich bezweifle, dass sie wirklich kommen wollte. Wahrscheinlich hat sie eine letzte Regung mütterlicher Fürsorge gepackt, zumindest aber das Gefühl, dass sie besorgt sein sollte. Möglicherweise war das Getöse schlechter Nachrichten daran schuld, das nun regelmäßig aus Russland zu hören war – ein Bombenattentat in der Metro, rätselhafte Explosionen irgendwelcher Pipelines und dann die Sache mit dem Hubschrauber des ehemaligen Finanzministers. Ich wünschte mir, Nick und Rosemary könnten sich ehrlich wie Erwachsene unterhalten, könnten sich sagen, dass sie einander auf gewisse Weise liebten, beide aber auch der Ansicht waren, dass sie einander zu viel zumuteten, fünf Tage, einhundertzwanzig Stunden, in denen sie sich zu wenig zu sagen hatten, aber auch viel zu viel, falls sie das offene Gespräch wirklich wagen oder auch nur versuchen wollten. Taten sie aber nicht, und Anfang März war es so weit: Meine Mutter kam zu Besuch.
    Ich holte sie am Flughafen Sankt Petersburg ab. Findest du nicht, dass es stets ein schöner, kleiner Moment der Gnade ist, dieser Augenblick, wenn in die Ankunftshalle ein Trupp fremder Menschen strömt, die über den Himmel geflogen und lebendig gelandet sind – zugleich beneidenswert und irgendwie schmerzlich, die Art, wie sie ihre Verwandten umarmen, manchmal weinen, sich dann unterhaken und zu einem Leben zurückkehren, von dem wir nichts wissen. Mit den übrigen britischen Touristen tauchte schließlich auch meine Mutter auf. Wir küssten uns so unbeholfen wie Politiker bei einem Gipfeltreffen, und ich fand ein Taxi, das uns in die Stadt brachte. Unterwegs plauderte ich mit dem Fahrer, der erzählte, er sei ein pensionierter Major und mache einen netten Nebenverdienst mit dem Verkauf ausrangierter Armeebestände, nur für den Fall, dass ich je etwas brauche.
    Ich hatte uns am falschen Ende des Newski-Prospekts ein Hotel gebucht – einer dieser stadtgroßen sowjetischen Kästen mit tausend Zimmern, einer Kegelbahn, einem Kasino, auf jedem Stockwerk einem leeren Café und einem Bordell im Souterrain. Bei unserer Ankunft saßen die Hausprostituierten schwatzend an den Kaffeetischen. Man ließ uns an der Rezeption für beide Nächte im Voraus bezahlen, eine sinnvolle Vorsichtsmaßnahme, bedenkt man den Zustand der Zimmer (Stromkabel, die sich wie Telegrafenleitungen unter den Decken entlanghangelten, im Bad keine Waschbecken, dafür verdächtig feuchte, braune Teppiche). Meine Mutter sagte, sie sei müde, also aßen wir im Hotel. Sie ließ mich fragen, ob der auf der Speisekarte angebotene Lachs frisch sei, und die Kellnerin erwiderte, er sei ›nur einmal tiefgefroren‹. Eine kleine Schar drittklassiger Mafiosi besetzte die Mitte des Restaurants zusammen mit einer Gruppe schwankender, junger Frauen, die von den Männern immer wieder von ihren Stühlen gescheucht wurden, damit sie zwischen den Tischen tanzten, während die Kellner angeraunzt wurden, die Musik lauter zu drehen.
    Nachdem wir auf unsere Zimmer gegangen waren, rief mich immer wieder jemand an und fragte, ob ich mich langweile und nicht lieber einer schönen Frau vorgestellt werden möchte. Gegen drei Uhr morgens stöpselte ich das Telefon aus und schlief dann bis lange nach Anbruch jener milchigen Dämmerung von Sankt Petersburg, diesem nördlichen Licht, das einen glauben lässt, man schlafwandle, obwohl man schon aufgestanden ist

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