Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
ich Tatjana Wladimirowna vorher gesagt hatte. Und sicher hat etwas in mir gehofft – an jenem Abend stärker noch als sonst –, dass ich besser sei, als ich es war. Besser, als ich bin. Ich sagte ihm, ich fände, er hätte unrecht. Ich sagte, so wären wir nicht. Wir hätten Regeln, hätten Grenzen. Ich sagte, ich sei nicht so.
»Nein?«, sagte Paolo. »Dann lass mich dir noch was sagen, du englischer Gentleman. Dank diesem Kosaken machen wir unsere Boni, kapiert? Kein Kosak, kein Bonus. Und du bist dir sicher, dass du anders bist? Ganz sicher? Du und ich, wir sind die Flöhe auf dem Hintern des Kosaken.«
Das war noch nicht alles. Im gelblichen Weiß von Paolos Auge schwamm ein bräunlicher Tropfen Blut. Nach einer Weile gingen mir die Argumente aus. Ich wandte den Blick ab und schaute aus dem Fenster auf die lächerliche Kuppel der Kathedrale. Teenager rauchten und küssten sich im Schneematsch unweit der Statue irgendeines vergessenen Revolutionärs.
Das war die Lektion, eigentlich dieselbe Lektion, die ich von Tatjana Wladimirowna gelernt hatte: Dass wir nicht anders waren. Ich war nicht anders. Vielleicht war ich sogar schlimmer.
Ich hob mein fast leeres Cocktailglas und sagte: »Malen wir Lippenstift ins Schweinegesicht!«
»Okay«, sagte Paolo, »auf den Lippenstift im Schweinegesicht!«
Wir stießen an.
*
Sie hätten sich in der Metro kennengelernt, erzählte Tatjana Wladimirowna, genau wie Mascha und ich. Sie sagte, sie sei auf dem Dorogomilowskaja-Markt gewesen, um Karpfen zu kaufen – den sie, wie sie nicht zu erwähnen vergaß, lebend heimbrachte, um ihn eine Weile in der Badewanne zu halten –, und die beiden jungen Frauen hatten ihr in der Station Kiewskaja mit den Tüten geholfen. Ich stellte sie mir vor, wie sie Tatjana Wladimirowna flankierten und mit ihr unter den irreführenden Mosaiken über die ukrainisch-russische Freundschaft in die Halle zwischen den Bahnsteigen gingen. Es sei im Juni gewesen, fuhr Tatjana Wladimirowna fort, und ich konnte mir die beiden vorstellen mit ihrem offenen Lächeln, kräftig und charmant im Sommerkleid, während Tatjana Wladimirowna in kurzärmliger Bluse und viel zu dickem Rock schwitzte.
Sie sagte, trotz der kurzen Zeit seien die beiden inzwischen wirklich so etwas wie eine Familie für sie geworden, doch nein, eigentlich sei sie nicht ihre Tante. Ich saß da, knetete meine Hände und sagte nichts. Meine Hände sahen wie die Hände von jemand anderem aus. Ich nehme an, sie hatten sich gesagt, Tante klänge plausibler, nicht so belastend, und wenn sie achtgäben, käme die Wahrheit sicher gar nicht heraus.
»Keine Sorge«, sagte Tatjana Wladimirowna lächelnd, »es ist nicht wichtig.« Rückblickend frage ich mich, ob sie mir nicht sagen wollte: »Überhaupt kein Grund zur Beunruhigung.«
Ich ging auf die vierzig zu. Ich hatte mich auf Moskau eingelassen, auf Mascha, und nun ließ ich mich auf dies hier ein. Es war nur ein weiterer Schritt, den ich mit einer Lüge kaschierte, um damit leben zu können. Ehrlich gesagt, sie fiel mir nicht einmal besonders schwer. Gewiss war die Wahrheit – die Wahrheit über mich, meine ich, und darüber, wie weit ich gehen konnte – von Anfang an sichtbar und sehr nah gewesen, so als warte sie nur darauf, dass ich sie entdeckte.
Ich wechselte das Thema, trank meinen Tee und sagte, ich sei froh, dass der Winter zu Ende gehe. Ich erzählte, dass wir daran dächten, nach Odessa zu fahren. Als Mascha und Katja kamen, verloren wir kein Wort über das, was mir von der alten Frau gesagt worden war. Tatjana Wladimirowna hatte offenkundig beschlossen, es zu vergessen. Sie servierte Kuchen und Schokolade und unterschrieb die Formulare, die sie unterschreiben musste.
Später hob ich fünfundzwanzigtausend Dollar von der Bank ab, fuhr mit Mascha in einen leeren Jazzklub unweit vom Konsistorium und traf mich mit Stepan Mikhailowitsch in dunklen Privatgemächern, um ihm das Geld zu geben (mit theatralischer Geste weigerte er sich, es nachzuzählen). Olga, der Tatarin, sagte ich, sie bräuchte sich nicht mehr um die Papiere für die Wohnung in Butowo zu kümmern. Wir hätten sie bereits beisammen. Und wie versprochen ging ich mit ihr in die schicke Bar des Hotels gleich neben dem Bolschoi-Theater.
VIERZEHN
M einer Erfahrung nach kann man den Grad der Verderbtheit einer slawischen Stadt grob danach einschätzen, wann einem nach der Ankunft Frauen angeboten werden. In Odessa schaffte ich es nicht einmal, das
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