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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.D. Miller
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kurze Monate gepackt werden würden. Das große Tauen hatte begonnen, Schnee und Eis rieselten von den Dächern wie Regen aus niedrigen Höhen. Ausländer lächelten sich in Restaurants an, als wären sie die sprachlos erleichterten Überlebenden einer Katastrophe. Es war vorbei: Das Hin und Her zwischen überheizten Gebäuden und eisigen Straßen, das endlose An- und Ausziehen, dieser russische Marathonwinter, den kein Mensch, der seine sieben Sinne beisammenhat, freiwillig erleben möchte. Es fühlte sich wie ein Wunder an.
    Wir selbst, Mascha und ich, erlebten gleichfalls eine warme, sanfte Phase. Sie war nicht real, das weiß ich heute, wusste es vielleicht schon damals. In gewisser Weise aber war es unsere realste Zeit, unsere ehrlichste Zeit. Noch war es Liebe, auch wenn man es damals schon eine Sucht hätte nennen können. Ich fürchte, ich muss dir diese Dinge erzählen. Es tut mir leid, wenn es weh tut.
    Wir redeten. Sie erzählte mir von den Wintern ihrer Kindheit und dem Bandenkrieg, der Anfang der neunziger Jahre in ihrer Stadt tobte, auf der einen Seite die Schläger des Bürgermeisters, auf der anderen die Gangster des Gouverneurs. Wurde einer umgebracht, erinnerte sie sich, dann stellten seine Freunde ihm zu Ehren auf dem Friedhof eine lebensgroße Statue auf, den Autoschlüssel in der Hand: Man nannte sie die ›Denkmäler für die Opfer des frühen Kapitalismus‹. Sie erzählte, wie sie sich als Teenager gewünscht hatte, nach Moskau zu kommen, und wenn nicht nach Moskau, dann nach Sankt Petersburg, und wenn das nicht, dann wenigstens nach Wolgograd, Samara oder Nischni Nowgorod, Hauptsache zivilisiert, sagte sie, irgendwo, wo es Jobs gab und richtige Nachtklubs, irgendwo anders. Ich erzählte ihr auch so manches, worüber ich sonst mit keinem Menschen rede, ausgenommen vielleicht mit dir. Keine richtigen Geheimnisse, damals hatte ich ja kaum welche. Eher, du weißt schon, Gefühle, Ängste – über meine Arbeit, meine Zukunft, wie es kam, dass ich so allein gewesen war.
    Wir redeten sogar wieder darüber – wenn auch, als folgten wir einem Drehbuch oder als wäre es ein Spiel –, wie es sein würde, wenn sie eines Tages mit mir in England lebte. Allerdings war es für mich selbst bereits fraglich geworden, ob ich dazu noch je in der Lage sein würde: Ich fing an, mich wie einer dieser hoffnungslosen Kolonialisten zu fühlen, von denen man hört, dass sie zu lang in Afrika geblieben sind und nicht damit zurechtkommen, wenn sie schließlich wieder in
merry old England
enden. Ich besaß keine Vorstellung mehr davon, wie ein Leben in London sein würde, ein Leben ohne Schnee, Datschen und besoffene armenische Taxifahrer. Ich hatte meine Vorstellung von mir selbst verloren. Die Symptome, an denen ich litt, treten auf, wenn man zu lang im Ausland lebt, vermutlich eine extreme Version jener Wurzellosigkeit, die manche Menschen zu Beginn des frühen Mittelalters verwirrte. Mascha trieb auf ihre Weise ebenfalls ankerlos dahin, schien aber zu wissen, wohin sie wollte.
    Zwei- oder dreimal traf ich sie nach ihrer Schicht im Handyladen, und wir spazierten die Uferstraße entlang oder gingen auf einen Drink in den Irish Pub auf der Pjatnizkaja. Oder wir schauten uns die Ikonen in der Tretjakow-Galerie an und schlitterten in diesen dämlichen Plastiklatschen herum, die man in russischen Museen tragen muss, was mir ziemlich peinlich war, bis ich merkte, dass alle Besucher sie trugen. Mascha kannte die Namen sämtlicher Heiliger und wusste stets, welch unglückselige Stadt Iwan der Schreckliche oder sonst irgendwer auf den Bildern plünderte, doch eigentlich war sie nicht daran interessiert, und ich heuchelte ebenfalls nur Interesse. Sie kam mir zärtlich vor, manchmal jedenfalls, schmiegte sich hinterher an mich, und ein-, zweimal zog sie morgens auch eines meiner schlechtgebügelten Hemden an, um mir Kaffee ans Bett zu bringen.
    Dank Olga hatten wir fast alle Papiere für Tatjana Wladimirownas alte Wohnung zusammen. Kurz vor dem Siegestag gingen Mascha, Tatjana Wladimirowna und ich dann zu einer psychiatrischen Klinik, um das letzte Dokument zu besorgen – die offizielle Erklärung, dass sie bei Vertragsabschluss geistig und psychisch gesund war (Katja studiere für ihr Examen, sagte Mascha, und habe keine Zeit). Eine Babuschka, eine zähe, schöne Gazelle und ein bebrillter Ausländer: Eine verdächtige Kombination, sollte man meinen, für alle, denen wir auffielen.
    *
    Jede Untergrundbahn kennt ihre

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