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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.D. Miller
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eigenen offiziellen wie inoffiziellen Regeln. In London muss man auf den Rolltreppen rechts stehen, Passagiere erst aussteigen lassen, darf niemals mit Fremden reden und sich in den Waggons der Tube nie vor dem Frühstück küssen. In Moskau muss man, wenn man aussteigen will, nach der vorletzten Haltestelle aufstehen und sich reglos mit dem Gesicht zur Tür stellen, vor der sich bereits weitere aufgeregte Passagiere wie Soldaten versammelt haben, die darauf warten, in die Schlacht zu ziehen, wie Christen, die in eine römische Arena geschickt werden. Dann bahnt man sich einen Weg auf den Bahnsteig, während sich rabiate Vetteln in den Zug drängeln.
    An dem Tag, an dem wir das letzte Dokument besorgten, standen wir nach der Station Krasnoselskaja auf und stiegen Sokolniki aus. Draußen überdauerten in den Gossen noch ein paar Eiswulste, hingeschmiegt an bröcklige Bordsteinkanten, und ein paar kleine, schwarzgraue Klumpen klammerten sich an den Fuß der Straßenlaternen. Der Bürgersteig sah aus, als hätte man ihn mit eisiger Bratensoße übergossen, trotzdem trugen die Mädchen wieder ihre kurzen Röcke. Auf den Straßen roch es nach Bier und Revolution.
    Die Klinik, für die wir uns entschieden hatten, lag versteckt in einem Labyrinth schäbiger, siebenstöckiger Wohnhäuser. Dicke, offenliegende Heizrohre schlängelten sich um die Gebäude, fast wie bei diesem Kulturzentrum in Paris, allerdings nicht so bunt, dafür mit Asbest ummantelt. Wir traten ein, gingen an den rauchenden Krankenschwestern in der Eingangshalle vorbei und stiegen zwei Stock hinauf zur psychologischen Station. Es roch entfernt nach Gas, und ein deutliches Tropfen war zu hören. Wir sahen zwei Patienten in Krankenhauskluft, einer der beiden trug einen breitkrempigen Strohhut. Der Psychologe hatte eine John-Lennon-Brille auf, einen Dreitagebart, und an der Wand hing ein gerahmtes Zertifikat. Auf dem mit losen Papieren übersäten Tisch waren ein altes, rotes Telefon und zwei Plastiktassen, eine war umgekippt. An seinem weißen Kittel klebte Blut.
    »Trinkt sie?«
    »Nein«, antwortete ich.
    »Nein«, antwortete Mascha.
    »Ich bin noch nicht tot, Doktor«, sagte Tatjana Wladimirowna, »ich kann für mich selbst antworten.«
    »Falls sie trinkt«, sagte der Arzt, »kann man den Bescheid immer noch bekommen, nur wird er dann ein bisschen teurer.« Er legte die gefalteten Hände auf den Tisch und lächelte.
    »Ich bin nüchtern«, sagte Tatjana Wladimirowna.
    Der Psychologe zog die Nase kraus und schrieb etwas auf. Er wirkte enttäuscht.
    »Drogen?«, fragte er hoffnungsvoll.
    Tatjana Wladimirowna lachte.
    »Und wer sind Sie?«, fragte er mich, vor lauter Besitzanspruch plötzlich ganz kratzbürstig.
    »Ich bin ihr Anwalt.«
    »Anwalt? Verstehe.«
    Der Psychologe schob die Papiere beiseite und begann mit dem Gesundheitscheck.
    »Wie heißen Sie?«, fragte er Tatjana Wladimirowna und beugte sich dabei halb über den Tisch.
    »Josef Wissarionowitsch Stalin«, erwiderte Tatjana Wladimirowna. Sie behielt ihr Pokergesicht – vielleicht war es auch ihr Verhörgesicht aus alten Zeiten – gerade so lang bei, dass der Psychologe aufblickte, da er glaubte, einen Vorwand für die Erhöhung seiner Gebühren gefunden zu haben. Dann sagte sie: »Das war ein Scherz.«
    Sie nannte ihren richtigen Namen, ihr Geburtsdatum, den Namen des verschlagenen Präsidenten und gab Antwort auf einige weitere Fragen, die sich auch echte Verrückte hätten ausdenken können. Dann zahlten wir vierhundert Rubel, plus dreihundert für (so der Psychologe) für Sekretariatsarbeit, griffen uns den Bescheid, dem zufolge Tatjana Wladimirowna geistig gesund war, und gingen.
    Danach sah ich sie nur noch einmal, ehe wir nach Odessa flogen. Diesmal weiß ich das Datum genau. Es war der neunte Mai: Siegestag.
    *
    Ich lud sie zu mir ein – Mascha, Katja und Tatjana Wladimirowna. Wir wollten uns im Fernsehen die Parade der Panzer und Raketen auf dem Roten Platz ansehen und dann über den Bulwar zum Puschkin-Platz spazieren, um uns das Gedenkfeuerwerk am Kreml anzuschauen.
    Es war ein herrlicher Nachmittag. Mascha und ich servierten Bliny, Räucherlachs und all das Übliche. An jenem Tag ließ Mascha mich fühlen, dass wir wie andere Paare waren, die zum Essen einladen und zeigen, wie glücklich sie sind, wie sprachlos effektiv sie zusammen sein können, wie kompetent verliebt, wie entspannt sie miteinander kabbeln. Nach der Parade wurden im Radio patriotische Lieder gespielt, und

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