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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.D. Miller
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durchgeblättert hatten. »Nikolai, Sie sind ein Engel.«
    »Ja«, sagte Mascha, »Kolja ist unser Engel.« Sie strich mir durch das Haar, einmal nur und sehr leicht.
    »Es war mir ein Vergnügen«, erwiderte ich.
    »Lasst uns gehen«, sagte Katja, stand auf und streckte sich. »Das Feuerwerk fängt bald an.«
    *
    Auf dem Weg nach draußen trafen wir an diesem Abend Oleg Nikolaewitsch. Wir fuhren mit dem Fahrstuhl an seinem Stockwerk vorbei, doch trat er gerade in dem Moment durch die Haustür, als ich sie öffnen wollte. Er hatte einen schwarzen Anzug an, ein weißes Hemd und sah wie ein Jazzmusiker oder wie ein Beerdigungsunternehmer aus. In der Hand hielt er eine Brieftasche, nur war ich mir ziemlich sicher, dass sie leer war. Mascha und Katja kamen hinter mir, dahinter Tatjana Wladimirowna.
    Ich gratulierte ihm zum großen Sieg seines Landes, wie es in Russland am Siegestag Brauch ist. Und er gratulierte mir seinerseits zum Sieg Großbritanniens. »Ruhm Ihrem Großvater!«, sagte er. Als wir uns noch öfter unterhielten, hatte ich ihm einmal von den Konvois und der Verbindung meiner Familie mit Russland erzählt.
    »Oleg Nikolaewitsch«, sagte ich, »lassen Sie mich Ihnen meine Freundinnen vorstellen, Mascha und Katja.«
    »Ja, ja«, sagte er, als würde er sie kennen. »Ihre Freundinnen.«
    »Einen schönen Siegestag!«, sagte Katja und kicherte. Sie waren wie misstrauische Angehörige verschiedener Zivilisationen, die nur zufällig dieselbe Sprache sprachen.
    »Danke«, sagte Oleg Nikolaewitsch. »Auch für Sie.«
    »Tja«, sagte Mascha. »Es wird Zeit für uns. Entschuldigen Sie uns bitte.«
    Oleg Nikolaewitsch presste sich an die Wand, um Mascha und Katja vorbeizulassen. Die Frauen schoben sich an ihm vorüber und traten auf die Straße. »Alles Gute«, sagte er leise.
    Tatjana Wladimirowna war noch im Haus und stand jetzt neben mir. Ich wusste nicht, wie ich erklären sollte, wer sie war, also nannte ich einfach nur ihren Namen.
    »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Oleg Nikolaewitsch.
    »Mich auch«, erwiderte Tatjana Wladimirowna.
    Ich sah den Argwohn in ihrer beiden Augen, spürte, wie sie den jeweiligen Hintergrund einschätzten, Bildung, die Menge Blut, die sie oder ihre Familie sich von den Händen gewaschen haben mochten – jene Art spontane, epische Kalkulation, die ältere Russen vornehmen, ähnlich jener, mit der sich Engländer gegenseitig an Schuhen, Akzent und Frisur messen. Dann wurden die Blicke weicher, die Schultern sanken, ebenso die Schutzschilde.
    »Und Ihnen gratuliere ich auch, Tatjana Wladimirowna«, sagte Oleg Nikolaewitsch.
    »Sechzig Jahre«, sagte Tatjana Wladimirowna. »Sind es schon sechzig Jahre?«
    »Mehr oder weniger«, antwortete er.
    Ich schätze, sie war sechs, sieben Jahre älter als er, doch hatten sie beide alles mitgemacht – den Krieg, Stalin, den ganzen russischen Albtraum. Sie waren alt genug, an etwas geglaubt zu haben, auch wenn das, woran sie geglaubt hatten, sich als Betrug erwies. Die Jüngeren, jedenfalls die meisten von ihnen, hatten nichts, woran sie glauben konnten, selbst wenn sie gewollt hätten. Keinen Kommunismus, keinen Gott. Sogar die Erinnerung an Gott war vergessen.
    »Wir sind nach Kasan gezogen«, erklärte Oleg Nikolaewitsch plötzlich. »An die Wolga. Mein Vater war Techniker in einem Physiklabor. Zwei Jahre haben wir nicht in Moskau gewohnt.«
    »Leningrad«, sagte Tatjana Wladimirowna, nur den Namen der Stadt, sonst nichts.
    Oleg Nikolaewitsch nickte.
    Wir entfernten uns, gingen durch die Tür, als er sagte: »Nur einen Augenblick, Nikolai Iwanowitsch. Nur einen Augenblick, bitte.«
    Tatjana Wladimirowna trat in die fast warme Dämmerung hinaus zu den Mädchen, während er und ich in der Tür stehen blieben. Die Frauen waren nur wenige Schritte entfernt. Ich denke, wenn sie sich angestrengt hätten, wenn sie gewollt hätten, dann hätten sie hören können, was wir sagten.
    »Sie bauen ein Jacuzzi ein«, sagte Oleg Nikolaewitsch.
    »Wo?«
    »In Konstantin Andrejewitschs Wohnung. Jemand ist eingezogen.«
    Ich hatte lang nicht mehr an Oleg Nikolaewitschs Freund gedacht, und ehrlich gesagt, er kümmerte mich auch nicht besonders.
    »Wer?«
    »Ich weiß nicht. Keine Ahnung. Eine Bekannte, die in dem Haus lebt, hat es mir erzählt. Sie hat es gesehen.«
    »Was?«
    »Das Jacuzzi.«
    Er wartete auf eine Antwort, aber ich wusste zu dem Jacuzzi oder seinem Freund nichts zu sagen. Wahrscheinlich musste er es nur jemandem erzählen. Und sicher

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