Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Ausgezeichnet.«
Wir saßen am Strand in einem kleinen Bambuscafé. Drahtige Jungen im Teenageralter sprangen von dem verfallenen Pier oder sausten wacklige Rutschen hinab ins eisige Wasser. Von weitem erinnerte mich der Sand an einen Vulkanstrand auf Teneriffa (das ist lang her, vor der Zeit mit dir, vor Russland). Beim näheren Hinsehen schien er aber vor allem aus Zigarettenasche zu bestehen. Katja trug ein durchsichtiges Kleid, darunter einen roten Bikini. Mascha drehte ihren Sonnenschirm. Hinter der dunklen Brille konnte ich ihre Augen nicht sehen.
»In welchen Fächern hast du eine Prüfung abgelegt, Katja?«
»Marketing … Wirtschaft … noch viele mehr.« Sie lächelte. »Ich bin eine sehr gute Studentin.«
»Jahrgangsbeste«, sagte Mascha, und sie lachten. Ich lachte auch.
Der Betonweg, der am Strand entlangführte, roch vage nach Pisse, wenn auch nicht allzu unangenehm. Ein alter Mann pfiff ein Punchballspiel, und eine betrübt dreinblickende Alte erbot sich, uns auf einer vorsintflutlichen Waage zu wiegen. Ich sah jede Menge dösender Köter. Es schien, als bräuchten wir jetzt fast nichts mehr voreinander zu verbergen. Sie waren keine Schwestern. Tatjana Wladimirowna war nicht ihre Tante. Katja arbeitete als Kellnerin in einem usbekischen Restaurant. Alles kam ans Licht.
Wir saßen am Strand (Mascha und Katja auf ihren Plastiktaschen, um ihre Kleider zu schützen). Am Abend wollten wir in einen der Nachtklubs am Strand gehen, an denen wir unterwegs vorbeigekommen waren. Von einer Frau, die wie Tatjana Wladimirowna aussah, kauften wir uns ein Eis und schleckten stumm.
Als wir uns im Hotel umzogen, weil wir wieder ausgehen wollten, fand ich die Sache mit Serjoscha heraus.
*
Mascha ging ins Bad und schloss hinter sich ab. Die Wasserhähne liefen. Katja schlief. Durch die Tür zu ihrem Zimmer konnte ich sie auf dem Bauch liegen sehen, die Arme eng an sich gepresst wie bei einer Leiche. Nach etwa einer Viertelstunde klopfte ich an und fragte Mascha, ob alles in Ordnung sei, woraufhin sie nach langer Pause
›da‹
antwortete, das Wort aber in einem Ton in die Länge zog, der zwischen Orgasmus und Todesröcheln schwankte. Ich stellte den Fernseher an und zappte mich durch einen Wettkampf im Gewichtheben, softpornographische Werbung für italienische Chatlines, ein Gedränge von Männern in engsitzenden Anzügen, die sich in einem Gebäude, das ich für das ukrainische Parlament hielt, gegenseitig zu erwürgen versuchten, und eine Sendung über eine merkwürdige, live aus Turkmenistan übertragene Militärzeremonie, in der eine Bläserkapelle sowie mehrere Kamele eine gewisse Rolle spielten. Ich stellte den Apparat wieder aus. Von irgendwo hinter dem Hotel hörte ich ein Geräusch, das ich amateurhafterweise für Schüsse hielt. Dann sah ich Maschas pinkfarben abgesetzte Handtasche auf dem Nachttisch am Bett liegen, griff danach und machte sie auf.
Sie hatte beide Pässe dabei, den internationalen wie auch den russischen Ausweis, den alle Einheimischen bei sich tragen müssen. Deshalb bin ich mir so sicher, was ihren Nachnamen angeht. Hinterher dachte ich, ich hätte mir ihre Adresse merken oder aufschreiben können. Vielleicht hätte ich das wirklich tun sollen, nur war ich so unvorsichtig wie in Eile und habe es nicht getan. Sie besaß eine Mitgliedskarte für einen Fitnessklub, eine weitere für einen Nachtklub in Taganka, von dem ich noch nie gehört hatte. Außerdem fand ich eine Rabattkarte für ein Accessoires-Geschäft auf dem Nowi Arbat, eine ›Kauf sechs, einer umsonst‹-Karte von einem Café am Puschkin-Platz, einen Metropass sowie etwa zweitausend Rubel und fünfzig Dollar. Und ich entdeckte ihre Telefonnummer auf einem Papierschnipsel, wie ihn alle praktisch gesinnten Moskauer bei sich tragen, damit jemand, der die Handtasche stiehlt, ein paar Tage später die Oma vorbeischicken kann, um Mascha die eigenen Ausweispapiere zurückkaufen zu lassen. Dann war da noch ein Foto.
Der kleine Junge auf dem Foto sah einfach zu goldig aus. Es war eine Schwarzweißaufnahme, Passgröße, trotzdem konnte ich eine blonde Haartolle à la Tim ohne Struppi erkennen, die unter einer am Kinn zugebundenen Winterhaube vorkringelte. Ich hätte es nicht mit Gewissheit sagen können – die monatlichen Veränderungen und drolligen Fertigkeiten, über die Eltern sich so erregen können, hatten mir noch nie etwas gesagt –, doch nehme ich an, dass er auf dem Bild etwa ein Jahr alt war. Man konnte nur seine
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