Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
obere Hälfte sehen, aber er schien einen kleinen Matrosenanzug zu tragen. Sein Gesicht war halb der Kamera zugewandt, als er zur Mutter hochblickte, auf deren Schoss er saß. Es war Mascha.
Ich drehte das Foto um. Jemand hatte ›mit Serjoscha‹ auf die Rückseite geschrieben, dazu ein Datum, gut fünf, sechs Monate, ehe ich Mascha kennengelernt hatte. Ich rechnete mir aus, dass der kleine Junge jetzt etwa zwei Jahre alt sein musste, steckte das Foto zurück in die Handtasche und legte sie wieder an ihren Ort.
*
Am Abend trugen sie beide einen Catsuit – Maschas war dunkelblau, Katjas, glaube ich, tiefrot – und zu viel Make-up. Zum Abendessen gab es ukrainisches Bufett. Ich lud mir Klöße auf den Teller, aß aber fast nichts, saß nur da und fragte mich:
Wer ist Serjoscha? Wer ist Serjoscha? Wer ist Serjoscha
? Sie unterhielten sich darüber, wo sie Urlaub machen würden, wenn sie es sich leisten könnten (die Malediven, die Seychellen, Harrods in London). Anschließend tranken wir Piña Colada in einer brechend vollen Bar und fuhren dann mit dem Taxi zu einem Nachtklub am Strand. Ich glaube, er hieß Ramses, vielleicht auch Pharao.
Es war das erste Wochenende der Saison, noch früh am Abend, etwa halb elf, und es war kühl, der Laden fast leer. Es gab eine Bühne, die beinahe im Trockeneisnebel verschwand, eine verlassene Tanzfläche, und um die Tische ragten die Wände dreier Plastikpyramiden in die Höhe. Wir setzten uns und warteten darauf, dass etwas passierte, versuchten nicht einmal, uns über die Techno-Musik hinweg zu unterhalten. Langsam dann, wie so oft bei Partys und Nachtklubs, füllte es sich. Mascha und Katja gingen tanzen. Ich machte mich auf den Weg zur Bar, stand allein am Tresen, schaute mich um und trank.
Abgesehen von etwa einem Dutzend filmreif aussehender Gangster mit furchteinflößenden Schwarzjacken, baumstarken Nacken und Schwerstverbrecherhaarschnitt war ich um gut fünfzehn Jahre älter als die meisten Gäste. Die langbeinigen Frauen aus Odessa sahen mich an mit meinen Jeans und meinem Partyhemd, als wäre ich Exhibitionist oder Bettler. Es gab eine Stripshow – ein abgedrehtes Nacktballett mit einem regungslosen Riesen und zwei nicht mehr ganz jungen, schlafftittigen Frauen, was die Klubgänger mit ironischem Gekreische und Gejohle quittierten.
Als die Stripper nach ihren Kleidern griffen und davonhuschten, stieg ich eine der Pyramiden hinauf und suchte die Tanzfläche nach den Mädchen ab. Mir ist diese Nacht nicht mehr klar in Erinnerung, doch sehe ich mich in traumhaften Bildern zu einer Stelle am Bühnenrand vorkämpfen und mich unhörbar bei den Besitzern jener Zehen entschuldigen, auf die ich dabei trete, die Brille beschlagen, ein Hämmern in den Ohren. Mascha und Katja stehen mit einem jungen Paar zusammen, allerdings tauchen die Fremden im Gliederdschungel unter, sobald sie mich kommen sehen.
Ich stand vor Mascha, nahm ihren Kopf zwischen beide Hände, um ihn stillzuhalten, und schrie dann so laut ich konnte:
»Wer ist Serjoscha?«
»Was?« Ihr Gesicht hörte auf zu tanzen, der Körper wollte weitermachen.
»Wer ist Serjoscha, Mascha?«
»Nicht jetzt, Kolja.«
»Ist Serjoscha dein Sohn, Mascha?«
»Nicht heute Abend, Kolja.«
»Ist er bei deiner Mutter? War deine Mutter wirklich so krank, als du noch klein warst? Lebt sie noch, Mascha?«
»Nicht heute Abend. Dieser Abend ist allein für dich, Kolja. Lass uns tanzen.«
Ihr Körper fing wieder an. Ich hielt sie noch am Kopf, aber Mascha langte mit einer Hand um mich herum nach Katja, und dann spürte ich, wie Katja meine Schultern mit ihren Armen umfing, wie sich ihre Finger an Maschas Hinterkopf mit meinen verschränkten, spürte ihren Atem in meinem Nacken und ihren Busen, der sich eng an mich schmiegte.
Ich war halb voll mit Piña Colada, die andere Hälfte war betäubt vor lauter Verstehen. Ich ließ zu, dass Katja meine Hände fortzog, hörte auf, Mascha anzuschreien, und verfiel in mein gewohntes Discogeschlurfe. Wir müssen wie die Verkörperung einer abgedroschenen Männerfantasie ausgesehen haben.
Das Besondere an Odessa ist, dass man hier, noch eher als in Moskau, manche Dinge im richtigen Licht und mit dem richtigen Schmiermittel besser aussehen lassen kann, als sie in Wirklichkeit sind. Man kann sie so sehen, wie man sie sehen möchte. Menschen leben davon, das kannst du auch. Ich tat es jedenfalls in dieser langen letzten Nacht. Der Trockeneisnebel verzog sich, und ich blickte über die
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