Die Eiskrone
Prinzessin nicht klettern. Aber Roane hatte ganz automatisch schon die Verantwortung für Ludorica übernommen und erklärte ihr nun flüsternd, wie sie zu entkommen hoffte.
»Gib mir deinen Dolch!« wisperte die Prinzessin. »Nein, nein«, sagte sie lächelnd, als sie Roanes Gesicht sah, »ich will mir den Weg nicht freikämpfen. Ich kann nur nicht in diesen Kleidern klettern.«
»Ich habe aber keinen Dolch«, erwiderte Roane leise.
»Was? Keinen Dolch? Wie kannst du dich dann schützen?«
Roane hatte ein kleines Messer im Gürtel stecken, nach dem die Prinzessin begierig griff. Sie trennte damit breite Streifen vom Saum und band sich die Röcke etwa so um die Beine, daß sie wie eine groteske Imitation von Roanes Coverall aussahen.
»Das Messer sieht fast so aus wie das Abhäutegerät eines Waldläufers«, stellte die Prinzessin fest. »Deinen Namen hast du mir aber noch immer nicht gesagt, und auch dein Gesicht zeigtest du mir noch nicht.«
Sie streckte blitzschnell die Hand aus und legte die Finger um Roanes Handgelenk. Mit einer raschen Bewegung drückte sie die Hand nach oben, so daß der volle Strahl der Lampe Roanes Gesicht traf.
Roanes Reaktion kam zu spät. Die Prinzessin hatte ihr Gesicht schon gesehen, und da sie klug zu sein schien, mußte sie einiges festgestellt haben. Roanes Respekt vor der Prinzessin wuchs. Ein Mädchen, das nach allem Erlebten einen kühlen Kopf bewahrt, ist keine alltägliche Person. Unwillkürlich überlegte Roane, ob sie unter solchen Umständen ebenso kaltblütig geblieben wäre.
»Du bist kein Mann!« Der Lichtstrahl wandte sich dem Boden zu. »Aber deine Kleidung … dergleichen habe ich noch niemals gesehen. Und auch dein Haar ist so kurz. Seltsam siehst du aus. Vielleicht sind die Legenden doch wahr? Wenn du …« Zum erstenmal zitterte die Stimme der Prinzessin. »Wenn du … einer der Hüter bist, dann sage mir bitte die Wahrheit. Es ist mein Recht, zu fragen, denn ich bin aus königlichem Blut und die nächste Königin von Reveny. Wenn du einer der Hüter bist, was wurde aus der Eiskrone?«
Diese Bitte war eine Mischung aus Befehl und Flehen, und Roane erkannte keinen Sinn darin. Aber ein Geräusch von unten war um so leichter verständlich. Nun hatte endlich der Sturm nachgelassen, und die Männer unten richteten sich zum Aufbruch.
Roane schaltete die Lampe aus. Kamen die Männer herauf, dann konnte sie wenig tun. Im Lager gab es Lähmpistolen. Roane wäre jetzt glücklich gewesen, hätte sie eine bei sich gehabt. Sie hatten noch nicht einmal eine ausgepackt, da sie ja mit den eingeschalteten Deformern keine Angst vor den Waldtieren zu haben brauchten. Es war ihnen auch streng untersagt, diese Waffen gegen Einheimische anzuwenden, außer sie mußten um ihr Leben kämpfen. Sie hatte ein Messer bei sich und jenen Stab, mit dem sie die Kette durchtrennt hatte, sonst nichts.
Sie blieben stehen und lauschten. Es war jetzt ein wenig heller geworden, und Roane zog die Prinzessin in das Versteck hinter dem Bett. Je eher sie sich darüber klar werden konnten, ob diese Löcher in der Mauer in die Freiheit führten, desto besser. Vielleicht brauchten sie die Lampe gar nicht.
»Hinaufklettern«, flüsterte Roane und schob die Prinzessin vor sich her, die ihre Hände sofort zu den Nischen hinaufstreckte. Roane kauerte sich zusammen, um die Treppe zu überwachen. Schade, daß sie nicht die Truhe als Barrikade benützen konnten, aber das hätte zuviel Lärm gemacht.
Ihr schien, daß die Prinzessin zu laut atmete und daß sie mit den Händen und nackten Füßen zuviel Lärm machte. Sie strengte ihre Ohren an, hörte aber von unten nichts Verdächtiges.
Und dann hatte die Prinzessin die Höhe der Querbalken erreicht, so daß Roane ihr folgen konnte.
»Hier ist ein Stück Bretterboden«, flüsterte ihr die Prinzessin zu. »Ich glaube, auch eine Tür. Und sogar ein Betrüger, glaube ich.« Was die Prinzessin damit meinte, war Roane völlig unklar.
Jedenfalls schien ihre Gefährtin etwas zu erkennen, das nützlich sein konnte. Mit dem nächsten Griff zog sich Roane nach oben und landete auf einer Plattform, die über zwei einander kreuzende Balken gelegt war.
»Hier ist eine Tür, die auf das Dach führt, und ich habe den Riegel aufgemacht«, erklärte ihr die Prinzessin. »Wir können sie aber nur zu zweit aufheben. Sie scheint lange nicht benützt worden zu sein.«
Sie duckten sich zusammen, stemmten sich mit den Händen gegen die Falltür, und der Staub fiel ihnen auf
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