Die Eiskrone
Augenblick wurde ihre eigene Lage schwieriger.
»Zwei Meilen, vielleicht auch drei von hier entfernt«, antwortete die Prinzessin, und Roane wußte, daß eine Meile auf Clio etwa fünf irdischen Kilometern entsprach. »Und um die Wahrheit zu sagen – ich glaube, ohne Schuhe kann ich nicht so weit laufen. Für diesen Weg sind meine Füße viel zu empfindlich.«
»Von Hitherhow können wir aber nicht allzu weit entfernt sein«, meinte Roane.
Die Prinzessin hatte ihre Fußsohlen gesäubert und drapierte nun die Kette um ihre schmalen Schultern. »Nach Hitherhow kehre ich nicht zurück, solange ich nicht weiß …«
»Was?«
»Wie man mich so einfach aus meinem Bett heben konnte, ohne daß einer der Wächter auch nur einen Finger rührte, um es zu verhindern.« Sie sah Roane prüfend in die Augen, und ihr Blick wurde immer eindringlicher.
»Du … Nein, du gehörst sicher nicht zu uns. Aber ein Hüter hätte niemals die Wand hinaufklettern oder die Brücke überqueren müssen. Nach den alten Legenden braucht ein Hüter nur etwas zu wünschen, und schon geht sein Wunsch in Erfüllung. Ich weiß nicht, wer oder was du bist, und wenn du es mir nicht sagen willst …«
»Ich bin Roane Hume.« Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, ihren Namen zu nennen, aber wie unter einem merkwürdigen Zwang hatte sie es doch getan. »Ich stamme nicht aus Reveny, aber ich glaube, ich habe dir bewiesen, daß ich dir nichts Böses will.«
»Roane Hume«, wiederholte die Prinzessin nachdenklich. »Dein Name ist fremdartig. Aber wir leben in einer Zeit, da nicht mehr alles so ist, wie es früher war.« Noch immer musterte sie Roane, aber nun lächelte sie und streckte ihr die Hand entgegen.
Als Roane die Hand der Prinzessin ergriff, schien etwas in ihr zu schmelzen. Ihr war, als habe noch niemals jemand sie angelächelt oder sie um ihre Hilfe gebeten. Ihre kleine, braune, kräftige Hand drückte die zarte der Prinzessin, und erst viel später dachte sie daran, daß es unpassend und gefährlich war, sich auf dieser Welt einem Menschen in Freundschaft oder Kameradschaft verbunden zu fühlen.
»Du huldigst mir nicht und gleichst darin den Hütern«, sagte Ludorica. »Gibt es dort, woher du kommst, keinen Unterschied zwischen königlichem und anderem Blut?«
»Höchstens andeutungsweise«, gab Roane vorsichtig zu.
»Ich glaube nicht, daß ein Bewohner von Reveny in einem so merkwürdigen Land leben könnte«, meinte die Prinzessin dazu, lachte aber und legte einen Finger auf den Mund, als wolle sie sich Schweigen gebieten. »Ich will damit nicht eure Sitten heruntersetzen, Roane Hume. Es ist nur so, daß man fremde Sitten erschreckend findet, wenn man nur die eigenen kennt.«
»Wir haben jetzt keine Zeit, uns darüber zu unterhalten«, wehrte Roane ab, obwohl sie gerne selbst einige Fragen gestellt hätte. »Wenn du nicht nach Hitherhow zurückkehren und auch nicht nach Yatton gelangen kannst, wohin willst du dann gehen?« Sie selbst mußte sich ja endlich zum Lager auf den Weg machen, aber die Prinzessin verlassen? Nein, das war ausgeschlossen.
»Du bist von irgendwoher gekommen.« Die Prinzessin steuerte geradewegs die Lösung an, die Roane am meisten fürchtete. Was würde Onkel Offlas tun, wenn sie mit einem Flüchtling im Lager ankam?
»Ich werde dich mitnehmen«, sagte sie unfreundlicher, als sie gewollt hatte. Eine schwache Hoffnung gab es noch. Fände sie ein Versteck in den Wäldern, dann könnte sie Ludorica dort lassen, Lebensmittel, Schuhe und Kleider aus dem Lager holen und sie auf den Weg zu ihrem eigenen Volk bringen. Die Möglichkeit eines guten Endes wäre allerdings sehr gering.
Sie schaute sich um und stellte fest, was sie vom Turm noch sehen konnte. Sie mußte jedenfalls eine Spur zurücklassen, die ihre Verfolger gründlich in die Irre führte. Daß die beiden Männer die Prinzessin suchen würden, war ihr klar. Aber sie mußte ihr wenigstens eine einigermaßen vernünftige Fluchtmöglichkeit verschaffen.
Sie deutete nach Norden, also entgegengesetzt vom Lager. »Wir müssen dorthin«, sagte sie.
Sie kletterten den Fels hinunter. Die Prinzessin kam nur langsam vorwärts. Schließlich leerte Roane ihre Gürteltasche aus, verteilte deren Inhalt auf die Taschen ihres Coveralls, schnitt sie in zwei Teile und band sie ihrer Gefährtin um die Füße. Nun kamen sie rascher vorwärts.
Es regnete noch immer, wenn auch nicht mehr so stark, aber die Prinzessin fror. Das war eine neue Sorge für Roane. Sie selbst war
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