Die Eiskrone
Hitherhow, dem Besitz des geliebten Herzogs Reddick, vollstreckt werden. Die Unterschrift lautete: Ludorica, regierende Königin von Reveny.
Der Offizier reichte die Schriftrolle einem seiner Begleiter und hob die Hand an das große, bunte Emblem an seiner Brust. »So sagt die Königin, und so soll es geschehen!«
Ein paar in Roanes Nähe wiederholten diese Worte, aber die Zustimmung klang halbherzig und gezwungen. Einige Männer zischten sogar, und etliche schüttelten mißbilligend die Köpfe.
Sie hatte keine Ahnung, was sie tun konnte, um irgendwie eine Änderung herbeizuführen, aber sie hatte das ganz bestimmte Gefühl, das Gesetz des Handelns liege nun bei ihr. Langsam hatte sie sich bis zum Rand der Menge durchgearbeitet und stand nun in unmittelbarer Nähe der Wächter. Nichts ließ darauf schließen, daß jemand offen die Partei des Colonels ergreifen würde. Die Leute schienen Angst zu haben.
Nun brachten sie den Gefangenen heraus. Sein Arm lag in einer Schlinge, und sein Gesicht sah hager und sehr erschöpft aus. Doch er schritt aufrecht und stolz zur Mauer, sah nicht links noch rechts, und seine Miene war gleichmütig. Auf der Brustwehr erschienen einige Männer und ließen einen umfangreichen Apparat an Ketten herunter.
Im Licht der Laternen sah Roane, daß es ein Zylinder aus Metallreifen und Netzen war. Ein Mann, den man da hineinsperrte, konnte dort nicht aufrecht stehen und sich auch nicht bewegen. Als dieses Ding das Pflaster berührte, schob man Imfry hinein; einige andere zerrten es zur Mauerkrone hinauf, wo es festgemacht wurde. Die Männer auf der Brustwehr zogen sich nun zurück, und die Leute im Hof kehrten ebenfalls um, als wollten sie mit dem, was nun folgte, nichts zu tun haben. Niemand schaute sich nach dem Käfig um.
Roane zögerte. Sollte sie mit den Dorfbewohnern weggehen? Sie wußte nicht, was mit Nelis geschehen würde. Ließ man ihn kurzerhand im Käfig, bis er verhungerte oder verdurstete? Die Strafgepflogenheiten auf Reveny waren ihr unbekannt. Aber nun fällte sie ihren Entschluß.
Die unter der Tür stehenden Offiziere standen noch da. Über ihren Köpfen hing an der Mauer ein großes Königsemblem. Darauf richtete sie den Strahl ihres Werkzeugs.
Am oberen Rand dieses Emblems erschien eine glühende Linie. Sie hatte Glück, denn das Emblem bewegte sich, als habe die Aufhängung nachgegeben. Sie schrie und deutete darauf, und im nächsten Augenblick fiel die schwere Metallplatte zu Boden. Sie streifte dabei den Mann, der das Dekret verlesen hatte. Wächter rannten auf ihn zu.
Roane lief zur Mauer und zu jener dunklen Treppe, die zu den Zinnen hinaufführte. Sie rechnete jeden Augenblick damit, beschossen zu werden, doch sie hatte Glück. Die allgemeine Verwirrung im Hof kam ihr zugute. Auch der dort stehende Posten beobachtete fasziniert das, was unten vorging. Mit einem kräftigen Abwehrschlag, den man ihr während ihrer Ausbildungszeit beigebracht hatte, schickte sie den Mann zu Boden. Er gab keinen Laut von sich. Sie lehnte ihn an die Wand und hoffte, dort möge er bleiben, bis sie das getan hatte, was sie tun wollte. Mit ihrem Werkzeug bestrich sie sämtliche Laternen in der Nähe des Käfigs, die sofort schmolzen.
Nun fielen die erwarteten Schüsse. Roane duckte sich, huschte zum Käfig und drückte ihr Werkzeug auf dessen Verschluß.
Das Metall glühte auf. Sie mußte sehr vorsichtig sein, um den Gefangenen nicht zu verletzen. Dann richtete sie sich an den Gitterstäben auf. Diese Momente waren die längsten ihres ganzen Lebens.
»Können Sie heraus?« flüsterte sie ihm zu.
Er hatte bisher noch keinen Laut von sich gegeben. Roane wußte nicht einmal, ob er noch bei Bewußtsein war.
Sie drückte ihr Werkzeug an die letzte Befestigung, aber es zeigte keine Wirkung mehr. Die Ladung war verbraucht; der Einsatz einer neuen kostete zuviel Zeit.
»Ich kann das Ding hier nicht mehr durchschneiden«, flüsterte sie.
»Ziehen, jetzt!« befahl er ihr, und sie gehorchte automatisch. Aber das Metallgerüst des Käfigs gab nicht nach. Verzweifelt drehte sie ihr Werkzeug um und schlug damit auf die Stelle ein, die sie anders nicht hatte lockern können. Mit dem zweiten Schlag schaffte sie es, und er fiel nach vorn. Sie hatte schon Angst, ein Geschoß habe ihn getroffen, denn im Hof wurde immer noch geschossen. Eine Gestalt tat einen Satz vorwärts, verfehlte aber den Colonel und warf sie an die Mauer der Brustwehr. Mit kräftigen Armen drückte ihr der Angreifer die Brust
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