Die Eisläuferin
von unseren Währungsexperten aufs Genaueste, das heißt zügig und doch gründlich, |82| analysiert werden muss, damit uns morgen nicht die Risiken von gestern einholen, n’est-ce pas?« Ihr Blick ging zu ihrem wirtschaftspolitischen Berater, der im Zustand steter, aber zurückhaltender inhaltlicher Hilfsbereitschaft neben ihr saß. »Nun, besonders erhellend war meine Antwort jetzt nicht, oder? Haben Sie dem noch etwas hinzuzufügen?« Ja, er hatte.
Der Gast hatte immer noch keinen Verdacht geschöpft, im Gegenteil, er wusste wohl diese bescheidene und doch ehrliche Antwort zu schätzen sowie insbesondere die uneitle, achtsame Geste, einem Dritten das Wort zu überlassen. Das hätte er auch gern gekonnt.
Sie konnte es nicht glauben. Es funktionierte tatsächlich. Dem Gast war offenbar an diesem Tag nicht besonders tiefgründig zumute. Ja, er hatte sogar eingangs erwähnt, dass er als Optimist stets nach vorne in den Tag schaue, statt selbstgrüblerisch zurückzublicken. Das kam ihr sehr entgegen. Und je länger sie sich mit ihm unterhielt, desto mehr hatte sie das Gefühl, in ihrer prekären Gedächtnislage nunmehr einen Gefährten gefunden zu haben, der sich offenbar ähnlich wie sie in mehr oder weniger kurzen Abständen neu erfinden musste. Er war ihr sympathisch, sie mochte ihn irgendwie. Das hätte sie gar nicht gedacht.
Sie wurde mutiger. Wie weit konnte sie gehen? Mit ihm mochte man sich nicht unbedingt über die Zukunft der Welt außerhalb seiner eigenen unterhalten, aber vielleicht über Tomaten? Eine Kommunikation, die allein eine soziale Funktion hatte und weniger bis gar keine inhaltliche, würde ihn sicher ein wenig beruhigen – und sie selbst wohl auch, so schwer ihr ein solches Konversationsniveau auch fallen mochte.
Als gratinierter Zander auf Tomatenmousse gereicht wurde, machte sie einen Vorstoß: »Die Tomate ist ein bemerkenswertes |83| Nachtschattengewächs, ein rotes Wunder, nicht wahr? D’ailleurs, kennst du schon mein altes Schulküchenrezept für Tomatensoße, mon schär? «
Seine Miene hellte sich auf, die Augen groß, der Mund breit überdehnt. Sie schien mit der Tomate mitten in sein »Point perdu« gezielt zu haben. »Ma chère, weißt du eigentlich, dass misch das wirklich interessiert? Meine Gattin lässt kaum kochen, da sie kaum isst. Aber isch.« An diesem Tag schien er auf Themen, die »moins sérieuses« waren, durchaus ansprechbar zu sein, und sie mochte sich gar nicht vorstellen, über was er sich mit männlichen Staatsoberhäuptern nach Aperitif und Vorspeise sonst noch so unterhalten mochte. Männer wollten zwar die Welt verändern, aber nicht auch noch darüber reden, zumindest nicht im kleinen Kreis, wo es doch so viel nettere Themen gab. Es war ein einziger Zigarrenclub.
Sie neigte den Kopf zur Seite und flüsterte der Übersetzerin ins Ohr: »Nun, ich mache sie mit viel Zwiebeln, Schinkenschwarte und einer Mehlschwitze.« Das Wort »Mehlschwitze« bereitete in der Übersetzung geringfügige Schwierigkeiten, aber der Gast war begeistert.
»Schon seit unserer ersten Begegnung heute, ma chère, lerne isch ganz andere Seiten an disch kennen. Méhlschitzwe, c’est fameux, c’est intime. Weißt du, das tut auch mal gut, denn am Ende eines Tages weiß man in unserer Profession vor lauter Politik ja oft nischt mehr, wer Freund und wer Feind ist, n’est-ce pas?«
Sie spitzte den Mund: »Ich wusste es! Genau so geht es mir morgens!« Man hob die Gläser in der Gewissheit, eine historische Freundschaft neu zu besiegeln.
So ging es fort, draußen strich der Wind durch die angepflanzten Weiden, und die zwischenstaatliche Liebe schien |84| erstmalig wieder richtig aufzuflammen. Und wo sonst vermochte man die Welt zu verändern, wenn nicht in der Küche dieses herrlichen, offenen neuen Gebäudes! Dort landeten am Ende die beiden Regierungsoberhäupter, samt einem halben Dutzend Fotografen.
|85| Das Glockenspiel
Sie war schnell gewesen am nächsten Vormittag, hatte nur achtzig Minuten für die letzten zwanzig Jahre gebraucht. Zudem hatte man ihr an diesem Tag das aktuelle Kabinett mittels pappverstärkter kleiner Karten vorgestellt, die anschließend gemischt wurden und die sie sodann aufzudecken und zuzuordnen hatte – eine recht einfache Übung, wie sie fand. Mit ihrer eigenen Person verhielt es sich dagegen schwieriger, sie war immer noch verzweifelt auf der Suche nach ihrer eigenen Karte.
Doch bei aller Grübelei war da etwas, das ihr im Bauch kribbelte, das ihr
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