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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
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Waffe. Er brauchte sie jetzt gerade sehr, die Waffe.
    Sie tat sich leid, aber er tat ihr auch leid, und wahrscheinlich |110| tat er sich ebenfalls leid. Nein, das war nicht souverän, fand sie. Es hatte so etwas Erzwungenes. So nicht. Also gut, in der Wissenschaft war ein negatives Resultat ja genauso aussagekräftig wie ein positives. Sie zog die ausgestreckte Hand zurück. Man musste ja auch kein Drama aus der eigenen Existenz oder der Beendigung derselben machen.
    Sie versuchte zu lächeln, klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter: »Kleiner Scherz. Entschuldigung. Ich wollte Ihnen nur sagen, toller Job, den Sie da machen, für mich und für alle. Mit Ihnen weiß ich mich in sicheren Händen, das ist für mich momentan sehr wichtig.« Es fiel so schwer. Sie wollte jetzt nur noch weg.
    Der Beamte spürte offenbar ganze Gebirgsketten von seinen Schultern stürzen, und es kam ein Leuchten in seine Augen. »Entschuldigung«, er kramte einen Notizblock aus seiner Uniforminnentasche, klappte ihn auf und gab ihr leicht zitternd einen Stift. »Meine kleine Tochter verehrt Sie sehr, will Politikerin werden, würden Sie vielleicht   … ich weiß, ich darf das eigentlich nicht, aber jetzt dachte ich   …«
    Ein Autogramm. Um Himmels willen, jetzt wollte der auch noch ein Autogramm. Ihr Blick glitt an ihm hinunter: Die Waffe, in genau diesem Augenblick war die Waffe frei und sie nah dran. Doch unglücklicherweise war jetzt seine Tochter drin in ihrem Kopf, und das war höchst hinderlich: Die Tante hat sich erschossen, als Papa ihr Zettel und Stift hinhielt. Wie sah das denn aus? Also gut, sie nahm den Zettel, setzte den Stift an, spitzte die Lippen, malte zwei Striche mit einer oberen Verbindung, dann einen kleinen, einen großen und noch einen Kringel, dazwischen willkürliche Verbindungslinien, bloß den Stift nicht zu früh absetzen. Es ging. »So. Das ist schon in Ordnung. Aber das bleibt jetzt |111| unter uns. Am besten, ich tue morgen so, als würde ich Sie gar nicht kennen.«
    Er lachte. Ja, das sei schwer in Ordnung.
     
    Sie war bereits jetzt der Anstrengung müde geworden, und es war erst früher Abend. Schon früher Abend. Und dann der Russe.
    An seine Augen hatte sie sich immer noch nicht gewöhnt, sie musste dauernd hineinschauen. Und warum musste sie dabei ausgerechnet an den Baikalsee denken? Ach ja, ertrinken, man konnte sich darin umbringen, vielleicht war es das. Aber es gab ja viele tiefe Seen. Warum also im Baikalsee? War sie dort gewesen? Lag der vor oder hinter Omsk? Sie entschuldigte sich kurz, ließ die blauen Augen im Arbeitszimmer stehen, noch bevor sie ihnen einen Platz angeboten hatte, und holte den Atlas. Er lag hinter Omsk.
    Er hatte sich unaufgefordert hingesetzt und schaute sich um. »So viele Bücher. Sie scheinen eine belesene Frau zu sein.«
    »Och, ja, irgendwie schon, aber irgendetwas in mir hat kürzlich diesen Kabelstrang kurzerhand gekappt, wenn Sie mich verstehen.« Sie tippte sich gegen die Stirn und sah ihn prüfend an.
    »Ja, sicher, aber trotzdem sind Sie im tiefsten Innern Ihrer Seele unglaublich kreativ. Und das ist zugleich auch unsere einzige Chance.«
    »Unsere Chance? Und dann auch noch die einzige? Hören Sie, Sie sollen mein Gedächtnis auf Vordermann bringen, mehr nicht. Ich würde daher vorschlagen, Sie lassen diese Lobhudelei und bleiben schön bei Ihren eigenen kreativen Chancen, nicht bei meinen.«
    »Warum?«
    »Warum? Na, Sie stellen Fragen! Wer hat Sie bloß gebrieft? |112| Die Konkurrenz schreibt heldenhaft ganze Bücher über eine Finanzkrise, die ich schlichtweg vergessen habe! Dabei war ich doch auch dabei, so wie es aussieht. Und vom Schreiben ganz zu schweigen. Ist das jetzt unterm Strich ein wenig klarer für Sie?«
    Er ließ sich offenbar nicht beirren, rückte seinen Stuhl näher an sie heran, als ihr lieb war: »Das Kreative ist irgendwo drin in Ihnen, aber bisher sind Sie noch nicht einmal mit den Fingerspitzen herangekommen. Doch jetzt, in Ihrer momentanen Verfassung, haben Sie die einmalige Chance, die zu werden, die Sie sind! Hier geht es um mehr als nur um verlegte Erinnerungen, wenn Sie mich verstehen.«
    Was fiel dem ein? Sie guckte nun doch ein wenig düpiert, Augen hin oder her. War der von der Opposition? »Ich halte es nicht für einen allzu gesicherten, fest umrissenen Zustand, die zu sein oder zu werden, die ich bin oder sein soll. Ich weiß nicht, ob es so etwas wie mich überhaupt gibt. Ich muss das momentan etwas fließend

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